KRANICH – Deutsche Literatur

Kranich – E.4 – II.2 Tierkunde, Enzyklopädik

Die ergiebigste Quelle für enzyklopädisches Wissen über den Kranich in deutscher Sprache ist Konrads von Megenberg Buch der Natur, dessen Hauptquelle Thomas’ von Cantimpré Liber de natura rerum ist (→ C. II.2.) und das ein eigenes, die naturkundliche Tradition kompilierendes Kapitel Von dem chranichen enthält (BdN III.B.34). Konrad referiert Solin, Isidor und andere Autoritäten, wenn er auf die feste Ordnung (Dreiecksform) des ziehenden Kranichschwarms hinweist und sie mit einer Schlachtaufstellung vergleicht (sam ain gepaliert ritterschaft). Angeführt werde der Schwarm von einem Leittier, das die Gruppe durch lautes Schreien zusammenhalte. Versage ihm die Stimme, übernehme ein anderer Vogel die Führung, und wenn ein Tier für den Weiterflug zu erschöpft sei, werde es von den anderen getragen, bis es sich erholt habe. Konrad kennt ein besonderes Verfahren der Kraniche während der Nacht: Die Vögel organisierten die Nachtwache so, dass neben dem Schwarmführer immer jedes zehnte Tier wach bleibe und sich dadurch vor dem Einschlafen bewahre, dass es, auf einem Bein stehend, einen Stein mit der Kralle festhalte. Schlafe der Kranich ein, wecke ihn das Geräusch des herabfallenden Steins sofort auf. Konrad greift damit eine bis auf Plinius zurückgehende naturkundliche Tradition auf, die zur Grundlage für die Verwendung des Kranichs als Symbol der Wachsamkeit (vigilantia) und des Gemeinschaftssinns in der mittelalterlichen Ikonographie und Allegorese wurde. Auf dem Boden bewache der Leitvogel unablässig seinen Schwarm und stoße Warnschreie aus, wenn Gefahr drohe. Im Buch der Natur findet sich auch die aus der Tradition (u. a. Solin) bekannte besondere Methode des Kranichs, durch die Änderung seines Gewichts seinen Flug zu stabilisieren: Vor dem Zug über das Meer fressen die Kraniche nach Konrad Sand, um leichter zu werden, und sie nehmen Steine in ihre Krallen, um dem Gegenwind besser standhalten zu können. Oft finde man auch einen Stein im Magen eines Kranichs, der im Feuer zu Gold werde. Konrad referiert darüber hinaus die auf die Antike (Ilias) zurückgehende, von den mittelalterlichen Enzyklopädisten (u. a. Honorius, Isidor) und Chronisten (u. a. Rudolf von Ems) rezipierte Sage vom Kampf der Kraniche mit den Pygmäen (chlainn läuten) in Ägypten während ihres jahreszeitlich bedingten Zuges in den Süden (vgl. BdN VIII.3, 526,21). Diese Sage kennt auch der Deutsche Lucidarius (vgl. Lucid. 21,13-15).

Ausg.: Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur, Bd. 2, ed. R. LUFF/ G STEER, 2003; Der deutsche Lucidarius, Bd. 1, ed. D. GOTTSCHALL/ G. STEER, 1994.

Lit.: Enzyklopädie des Märchens 8, 326-329; Lexikon des Mittelalters 5, 1471; Verfasserlexikon 5, 231-234; D. GOTTSCHALL: Konrad von Megenbergs Buch von den natürlichen Dingen, 2004.

Heiko Hartmann

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Kranich – E.4 – III.1 Fabel

Der selbstgefällige → Pfau rühmt sich wegen seiner Federnpracht und wirft dem Kranich dessen Schmucklosigkeit vor, der sich jedoch mit dem Hinweis auf seine Flugkünste zu wehren weiß (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 362). Im Wiener Fabelcorpus (Nr. 4) wird der Pfau mit dem Reichen gleichgesetzt, der sich jedoch nicht aus dem Schmutz seiner Bosheit aufzuschwingen vermag, während der Kranich für den Mittellosen, aber Tüchtigen steht, der allgemeines Ansehen genießt. Boner (Nr. 81) verbindet mit dieser Fabel die Mahnung, sich nicht wegen einer besonderen Begabung hoffärtig über andere zu erheben, denn die anderen könnten mit den offenkundigen Mangel mit anderen Vorzügen ausgleichen. Der Nürnberger Prosa-Äsop (Nr. 15) ergänzt diese Deutung um eine geistliche Auslegung und setzt den Pfau mit dem Hoffärtigen gleich und den Kranich mit dem Demütigen. Der Magdeburger Prosa-Äsop (Avian 12) folgert aus der Fabel, dass Schönheit an geistlicher Erkenntnis hindere. Steinhöwel (Nr. 126) verbindet damit die Mahnung, sich wegen seiner Schönheit nicht über andere zu erheben, die sich vielleicht durch andere Begabungen auszeichnen.

In der weit verbreiteten Fabel von der wechselseitigen Einladung zum Gastmahl von → Fuchs und → Storch (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 212) tauschen der Wolfenbütteler Äsop (Nr. 24) und der Magdeburger Äsop (Nr. 76) den Storch gegen den Kranich aus, ohne dass damit auch eine Veränderung der Moral (Verpflichtung zu gegenseitiger Rücksichtnahme) verbunden wäre.

Die Fabel vom → Wolf, der dem Kranich (oder → Storch) den für seine Hilfe versprochenen Lohn nicht zukommen läßt (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 631), wird weithin als Warnung vor dem Dienst für böse Menschen oder als Exempel der Undankbarkeit schlechthin verstanden. Der Nürnberger Prosa-Äsop (Nr. 47) ergänzt diese konventionelle Deutung um eine geistliche Auslegung und sieht im Wolf das Exempel des Reichen oder Mächtigen, der bei einer Erkrankung seinem Beichtvater Besserung und Buße gelobt, aber nach seiner Gesundung davon nichts mehr wissen will. Der Magdeburger Prosa-Äsop (I,8) wendet im Promythion die allgemein-moralische Auslegung dieser Fabel ins Sozialkritische, indem er sie auf die Herren bezieht, die ihren Untergebenen für deren Dienste keinen Dank erstatten, während in der geistlichen Deutung der sozialkritische Unterton des Nürnberger Prosa-Äsops ausgeblendet wird und der Wolf mit einem Kranken schlechthin gleichgesetzt wird.

Lit.: G. DICKE/K. GRUBMÜLLER: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987.

Dietmar Peil

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Kranich – E.4 – III.2 Tierepos

Im deutschen Tierepos kommt der Kranich nicht als handelnde Figur auf der Ebene des eigentlichen Geschehens vor, sondern wird als Protagonist der Fabel vom Kranich und → Wolf (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 631) durch andere Figuren narrativ integriert. Im Reynke de vos (III,11) ist diese Fabel Teil des Bildprogramms, das den Spiegel geschmückt haben soll, den der → Fuchs dem Königspaar geschickt haben will; Reynke will damit den → Wolf Isegrim, einen seiner Gegner im anhängigen Gerichtsverfahren, als Inkarnation der Undankbarkeit diskreditieren.

Dieselbe Fabel erzählt Reinick im Froschmeuseler (I,5639-5652) Georg Rollenhagens im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren zwischen dem Bauern und der → Schlange, um diese zur Verschonung des Bauern zu bewegen. Im Nachhinein erweist sich diese Fabel aber wieder nur als weiteres Exemplum für die These, dass Undank der Welt Lohn ist.

Ausg.: Georg Rollenhagen: Froschmeuseler, ed. D. PEIL, 1989.

Lit.: G. DICKE/K. GRUBMÜLLER: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987; D. PEIL: Der Einfluß des Reynke de vos auf Georg Rollenhagens Froschmeuseler (1595), Reinardus 5 (1992), 157-169.

Dietmar Peil

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Kranich – E.4 – IV.2 Lyrische Texte

In der deutschen Lyrik werden vor allem Flug und Gang des Kranichs zu Vergleichen herangezogen. Die Texte kommen weitgehend ohne den Rekurs auf naturkundliches Wissen aus. Im Ersten Philippston Walthers von der Vogelweide ist das stolze Schreiten des Kranichs, im Gegensatz zum geduckten Gang des → Pfaus, Metapher für das Hochgefühlvdes Dichters, das ihn beim Tod seines Gönners, Herzog Friedrichs I. von Österreich, verlassen hatte, bevor er in den Dienst Philipps von Schwaben trat (19,31-33). Wie in vielen Fabeln (→ C III.1 und E.4 III.1) ist der schmucklose Kranich bei Frauenlob (Heinrich von Meißen) dem → Pfau ebenfalls überlegen: Auch wenn der Pfau prächtiger ist, kann er sich dem Kranich an Tapferkeit (ellentat) nicht vergleichen (V,23,18). Im Neidhart-Lied Der pal (Hs. c [3]) werden die hohen Sprünge eines Bauernjungen beim Ballspiel mit dem vorzeitigen Abflug der Kraniche (unczeitiger kranches flug) verglichen (III,6). Heinrich von Mügeln zitiert in einem Sangspruch (67) die äsopische Fabel vom Kranich, der dem → Wolf einen verschluckten Knochen aus dem Rachen zieht und dafür nur Undank erntet (→ C.III.1. u. E.4 III.1.). Der Kranich vertritt in diesem Gedicht die Menschen, die aus güte handeln, aber dafür nur swaches lon (67,17) erhalten. In Freidanks Bescheidenheit ist der Kranich hingegen ein Sinnbild des Hochmuts (30,13).

Ausg.: Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche, ed. C. CORMEAU, 1996; Frauenlob (Heinrich von Meißen): Leichs, Sangsprüche, Lieder, 2 Teile, ed. K. STACKMANN/ K. BERTAU, 1981; Neidhart-Lieder, 3 Bde., ed. U.MÜLLER/ I. BENNEWITZ/ F. V. SPECHTLER, 2007, hier: Bd. 1, 454-461; Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln, ed. K. STACKMANN, 1959; Freidanks Bescheidenheit, ed. W. SPIEWOK, 1996.

Lit.: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, ed. I. KASTEN, 1995, 1001f. (Komm. zu WvdV 19,29ff.); K. GRUBMÜLLER: Meister Esopus, 1977, 280-296; W. RÖLL: »den phawen ofte hat überstigen des kraneches vluc«. Zu L 19,29ff., in: Walther von der Vogelweide, 1989, 379-390; O. SÄCHTIG: Über die Bilder und Vergleiche in den Sprüchen und Liedern Heinrichs von Meißen, Diss. 1930; S. L.WAILES: The Crane, the Peacock and the Reading of Walther von der Vogelweide 19,29, Modern language notes 88 (1973), 947-955; P. WAPNEWSKI: Literatur im Kranichschritt und Pfauengang (zu Walther von der Vogelweide 19,29ff.), in: Literatur in der Demokratie, 1983, 258-269.

Heiko Hartmann

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