TIGER – Reales Tier / Denktradition

Tiger – A. Das reale Tier

Der Tiger ist eine in bestimmten Gebieten Asiens verbreitete, gestreifte Großkatze. Er ist eine der größten, stärksten und schnellsten Großkatzen und ist in der Regel sehr scheu. Er lebt einsam außer in der Zeit der Brunst. Eine Tigerin bringt alle zwei bis drei Jahre einen Wurf von drei bis vier (selten auch bis zu sechs) Jungen zur Welt. Die Sterblichkeitsrate unter den jungen Tigern ist sehr groß und meist überleben nur zwei Jungtiere. Der Vater kümmert sich nicht um die Jungtiere, die bis zum Erwachsenenalter von zwei bis drei Jahren von der Mutter aufgezogen werden. Der Tiger greift normalerweise den Menschen nicht an. Er ist aber, wenn er angegriffen wird, für den Menschen sehr gefährlich, und ein verwundeter Tiger kann zum Menschenfresser werden (cf. Lexikon der Biologie, 2005). Da es beinahe unmöglich ist, ein erwachsenes Tier lebend zu fangen, tötet man die Mutter und fängt die jungen Tiger, die sich in Gefangenschaft leicht zähmen und aufziehen lassen und die weniger gefährlich sein sollen als andere in Gefangenschaft aufgezogene Raubkatzen. Tiger waren schon in der Antike als Statussymbol äußerst beliebt bei Fürsten und Königen, und auch heute noch besitzen verschiedene politische Persönlichkeiten ihre Tiger.

Seit dem 19. Jahrhundert, mit der Erfindung der Feuerwaffen, ist seine Verbreitung stark zurückgegangen, und gewisse Arten sind heute ausgestorben oder vom Aussterben bedroht.

Lit.: The Marshall Cavendish International Wildlife Encyclopedia, éd. M. BURTON/ R. BURTON, Bd. 2, 1990, s. v. ›Tiger‹, 2525-2528; Lexikon der Biologie, 2005, s. v. ›Tiger‹.

Clara Wille

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Tiger – B.1 Antike Zoologie

Die Seltenheit, Schönheit, Kraft und Schnelligkeit des Tigers hat von jeher die Menschen fasziniert. Dies führte dazu, dass dem Tiger auch legendäre Züge zugedichtet wurden, doch wurde er nie zu einem Symbol für bestimmte Charakterzüge wie andere Tiere. Im Gegensatz zu seiner Seltenheit in der Natur ist der Tiger in der Literatur überhaupt nicht selten und im Folgenden können aus dieser Fülle nur die wichtigsten Stellen zitiert werden.

Nach Varro, De lingua latina, 5, 100 und Strabon, Geographika, 11, 14, 8 ist der Name tigris von iran. tigra = ›spitz‹, ›scharf‹, abgeleitet und hängt mit pers. tighri = ›Pfeil‹, sowie mit dem Flussnamen Tigris zusammen. (Strabon, 11, 14, 8 τόξευμα/ toxeuma; Isidor, Etymologiae, 12, 2, 7 sagitta).

Nach Plinius, Naturalis Historia, 8, 62, ist der Tiger eine urspr. von Hyrkanien bis Indien verbreitete Grosskatze (falsch bei Ptolemaios, Geographie, 4, 8, 4: Aithiopien).

Die Griechen lernten den Tiger erst durch den Alexanderzug kennen (Curtius Rufus, Historia Alexandri Magni, 9, 30,1; Pseudo-Kallisthenes 3, 17, 32; Arrian, Indica, 15, 1 f.). In Athen sah man Ende des 4. Jahrhunderts. zum ersten Mal einen Tiger, den Seleukos I, Nikator (312-281 v. Chr.) den Athenern (Athen. 13, 590a und b) schenkte. Ktesias, um 400 v. Chr., (FGrH 688 F 45, 15) beschreibt nach indischen Quellen das menschenfressende Ungeheuer μαρτιχόρας/ martichoras mit drei Zahnreihen und einem Stachel am Schwanz, den er auf ihn verfolgende Feinde schleudert (bei Artistoteles, Historia animalium, 2, 1, 501a 25-b 1 liegt eine Ktesias zitierende Interpolation vor). Pausanias, Hellados Periegesis, 9, 21, 4 f. identifiziert den martichoras des Ktesias mit dem Tiger, dem die Inder wegen ihrer großen Furcht vor dem Tier fabelhafte Züge andichteten. Plinius, Naturalis Historia, 8,75 nimmt unter dem Namen mantichoras die Beschreibung des Ktesias in der aristotelischen Interpolation wieder auf, ohne aber, wie Pausanias, eine Verbindung zum Tiger herzustellen. So finden sich beide Tiere unabhängig voneinander in den mittelalterlichen Bestiarien und Enzyklopädien.

Die Behauptung des Aristoteles (Historia Animalium 8(9), 28, 607a 3-8), der Tiger kreuze sich mit dem → Hund, die wir auch bei Plinius, Naturalis Historia, 148-50, Solinus 15, 7-12 und Isidor, Etymologiae, 12, 2, 28 finden, beruht auf einem Missverständnis. Der Tiger findet sonst bei Aristoteles keine Erwähnung.

In der römischen Literatur findet man die erste Bemerkung bei Varro (De lingua latina, 1. 1. V 100), der sagt, dass noch kein Tiger bisher lebend gefangen werden konnte.

In Italien wurde der erste Tiger 19. v. Chr. Augustus von indischen Gesandten auf Samos übergeben (Cassius Dio 54, 9, 8). Am 4. Mai 11 v. Chr. wurde zur Eröffnung des Marcellus-Theaters ein gezähmter Tiger vorgeführt (Plinius, Naturalis Historia, 8, 65; Sueton, Augustus, 43; Seneca, Epistulae Morales ad Lucilium, epistula 85, 41; Martial, Epigrammata, 21, 1; Plutarch, Moralia, 974c). Von da an wurden in Rom bei Jagden im Amphitheater und bei Gladiatorenspielen oft Tiger gezeigt (bei Elagabals Hochzeit sogar 51, Cassius Dio 79, 9, 2). Eine so große Zahl war aber selten, da der Tiger ein seltenes und wertvolles Tier war; außerhalb Rom konnte man keine Tiger sehen.

Obwohl der Tiger in Rom nicht selten zu sehen war, sind beschreibende Angaben seines Äußeren sehr spärlich. Es wird zwar auf die Verschiedenfarbigkeit des Felles hingewiesen, aber die Flecken des → Panthers sind oft von den Streifen des Tiger nicht unterschieden (Plinius, Naturalis Historia, 8, 62; Isidor, Etymologiae, XII, 2, 7); Eine Ausnahme bildet Solinus (17, 4f.) der den Tiger mit braungelbem, schwarzgestreiftem Fell genau beschreibt. Oft wird seine außerordentliche Schnelligkeit im Sprung auf die Beute erwähnt (Pomponius Mela, De Chorographia, 3, 43; Plinius, Naturalis Historia, 8, 66; Oppian, Cynegetica, 3, 353, Solinus 17, 5, Isidor, Etymologiae, 12, 2, 7) und der Umstand, dass männliche Tiere sich nicht um die Jungen kümmern (Plinius, Naturalis Historia, 8, 66, Oppian, Cynegetica. 3, 360).

Man fing in Indien vor allem junge Tiger (Oppian, Cynegetica, 3, 363; Mela 3, 43; Ammianus Marcellinus 23, 6, 50; Timotheus Gazaeus 9) als Geschenk für Fürsten und Könige (u.a. Ktesias l.c.; Aelian, De natura animalium, 15, 14).

In einer stilisierten Form ist die Tigerjagd oft in der Literatur (u.a. Pomponius Mela 3, 43; Plinius, Naturalis Historia, 8, 65-66; Statius, Thebais, 4, 309 ss, 10, 820; Valerius Flaccus, Argonautica, 6, 149; Oppian, Cynegetica 3, 340 - 363; Sol. 17, 4f.; Claudian, De raptu Proserpinae, 3, 263-68; Ambrosius, Hexaemeron, 6, 4, 21) und in der bildenden Kunst (Wandgemälde im Grabmal der Nasonen in der Nähe Roms und auf Jagdmosaiken, cf. unten ›bildende Kunst‹) dargestellt: Der Jäger, der die Jungen geraubt hat, flieht vor der ihn verfolgenden Tigerin auf einem sehr schnellen → Pferd, das er mehrmals gegen ein frisches Pferd auswechselt. Wenn die Tigerin ihn einholt, wirft er ihr ein Junges entgegen (oder, bei Claudian, einen Spiegel, bei Ambrosius eine gläserne Kugel), so dass die Tigerin in ihrer Verfolgung inne hält, um ihr Junges in die Höhle zurückzubringen (oder, um ihr Spiegelbild zu betrachten, in dem sie ihr Junges zu erkennen glaubt). Die Tigerin nimmt aber immer wieder ihre Verfolgung auf, und dieser Vorgang wiederholt sich so oft, bis der Jäger sich auf ein bereitstehendes Schiff retten kann. Den Volksglauben, dass es vom Tiger nur Weibchen gebe und dass diese vom Windgott Zephyros befruchtet würden, (cf. Symphosius, aenigma 38 Variae Collectiones Aenigmatum Merovingicae Aetatis (Pars Altera), ed. Fr. Glorie, Corpus Christianorum Series Latina 133A, Turnholt: Brepols, 1968, p. 659), und dass die Tiger grausam sei, weist Oppian, Cynegetica, 3, 354 ff. als unwahr zurück.

In der Mythologie ist der Tiger wie der → Luchs und der → Panther Begleiter des Dionysos. So erscheinen Fell und Gespann bei Vergil (Vergil, Bucolica, 5, 29; Vergil, Aeneis, 6, 805). Auch zu Kybele (Ovid, Heroides, 2, 80), Zephyros (Claudian, De raptu Proserpinae, 3, 266; Oppian, Cynegetica, 3, 354), Priapos und Eros wird er in Beziehung gesetzt.

Clara Wille

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Tiger – B.2 Bibel und Bibelexegese

Nach dem Untergang des römischen Reiches wird der Tiger in Europa bis ins 15. Jh. nicht mehr gesehen. Er lebt aber weiter in der Literatur; von den vielen Stellen kann auch hier nur eine Auswahl präsentiert werden.

In den verschiedenen Versionen des Physiologus kommt der Tiger nicht vor. An seiner Stelle steht der myrmikoleon, der im 5. Jh in der lateinischen Übersetzung des myrmikoleon der Septuaginta, Iob. 4, 11, durch Hieronymus in der Vulgata mit tigris wiedergegeben wird.

Eine erste Erwähnung des Tigers in der christlichen Literatur findet sich aber schon bei Ambrosius (Hexaemeron, 6, 4, 21), der die Geschichte über die Tigerjagd bei Plinius aufnimmt und als positives Exemplum für die Mutterliebe verwendet, welches dann in die mittelalterlichen Bestiarien einfließt.

Die Kommentatoren der Vulgata-Bibelstelle geben unterschiedliche – meist negative – Interpretationen: Bei Eucherius von Lyon (formula 4; Eucherii Lugdunensis Formulae Spiritalis Intellegentiae, Instructionum Libri Duo, p. 30) steht der Tiger für die weibliche Arroganz, bei Ennodius, (Epistula 3, 15, pp. 111-112.) für die weibliche Grausamkeit.

Gregor in seinem Hiob-Kommentar stellt fest, dass der myrmikoleon der Septuaginta (den wir auch im Physiologus finden) der Tiger ist, den er als Metapher für den Heuchler, den Verführer, d.h. den Teufel deutet (lib. 5, 20, 39, p. 245, und 22, 43, pp. 247-248). Seinen Kommentar übernimmt u.a. Hrabanus Maurus, Patrologiae Latinae 111, de uniuerso, lib. 8, cap. 1, Sp. 219; Biblia Latina cum Glossa Ordinaria, Bd. 2, pp. 385-86, und Thomas Cantimpratensis, De natura rerum, 4, 97.

Bei Isidor (Etymologiae 12, 2, 7), und vielen anderen finden wir die Etymologie des Varro, Varro, De lingua latina, 5, 100, wieder, z.B. in einem Rätsel des Eusebius von Wearmouth (Eusebius, aenigma 43, p. 253. Cf. E. VON ERHARDTSIEBOLD, p. 10) und in den mittelalterlichen Bestiarien.

Im 11. Jh. verbindet Petrus Damianus in der Art des Physiologus eine typologische Deutung mit der naturwissenschaftlichen Legende. Er übernimmt die antike Geschichte der Tigerjagd und interpretiert die Tigerin als den Teufel, ihr Lager ist die Welt, und das Bild in der gläsernen Kugel zeigt dem Teufel die Seinen; der Jäger, der ihm die Jungen entreißt, ist der Priester.

Ausg.: Eucherius Lugdunensis: Formulae Spiritalis Intellegentiae, Instructionum Libri Duo, ed. C. MANDOLFO, 2004, p. 30; Ennodius: Magni Felicis Ennodi Opera, ed. F. VOGEL, ND 1961; S. Gregorius Magnus: Moralia in Iob Libri I-X, ed. M. ADRIAEN, 1979, Bd. 1, lib. 5, 20, 39, 245, und 22, 43, 247-248; Biblia Latina cum Glossa Ordinaria, Facsimile Reprint of the Editio Princeps Adolph Rusch of Strassburg 1480/81, 1992, Bd. 2, 385-86; Tatuinus: Variae Collectiones Aenigmatum Merovingicae, ed. M. DEMARCO, 1968, 25; E. VON ERHARDT-SIEBOLD: Die lateinischen Rätsel der Angelsachsen, 1925, 10; Eusebius: Aenigmata, 2009.

Lit.: C.WILLE: Le Tigre dans la tradition latine du Moyen Âge, Reinardus 22 (2010), 176-197.

Clara Wille

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