Schwein – C. – III.2 Tierepos

Im ältesten lateinischen Tierepos, der Ecbasis Captivi (11. Jh.), erscheint ein dente timendus aper als Torwächter beim Festmahl des Löwen und verspricht: percurram cetera sensu (v. 648-52), wobei unklar bleibt, welches Sinneswerkzeug er einzusetzen gedenkt. Der Antagonismus Schwein und → Wolf ist jedoch nirgendwo plastischer und aggressiver gestaltet als im 7. Buch des Ysengrimus. Der stets hungrige Wolf gerät hier in die Fänge von 66 rasenden Wildschweinen unter der Führung der mächtigen Salaura. Das Ambiente ist die gebildete monastische Welt des 12. Jh.s mit ihren diversen Ambitionen und Eifersüchteleien. Hinter dem wölfischen Abtbischof Isengrim vermuten manche einen typischen Vertreter der Zisterzienser, die zu jener Zeit gelegentlich als lupi rapaces karikiert wurden, z. B. in Walter Maps De nugis curialium I, 25 (vgl. auch den Anfang von Bernards Apologie an Wilhelm von Thierry). Die furiose Salaura wiederum ist Äbtissin des Sauordens mit 300 Nonnen als Untergebenen. Der Wolfbischof wünscht zu Beginn einen ›Friedenskuss‹, wobei er einen kräftigen Biss aus dem Hinterteil seiner Feindin meint. Jene besteht auf einer kompletten ›Liturgie‹ mit allerlei Gesängen und Friedensküssen, worunter natürlich Schreie und Bisse zu verstehen sind. Das makabre liturgische Spiel wird mit Dialogen von ausgesuchtester Höflichkeit konterkariert und endet mit Bestattungsfeierlichkeiten in 66 Schreinen (= Schweinebäuchen), wobei auch das dazu passende poetische Epitaph nicht fehlt. In einer anderen Episode, beim Hoftag des kranken Löwen in Buch 3, tritt ein Eber namens Grimmo auf, meist zusammen mit dem →Bären Brun als Baron im Hofstaat des Herrschers. Seine Funktion beschränkt sich darauf, den König zu beraten und ihm gegebenenfalls beizupflichten. Diese Rolle kommt ihm, als Baron Baucent (= der Braungestreifte), auch in Branche I des Roman de Renart zu (Le jugement de Renart).

In den Tierepen der Folgezeit treten Schwein und Eber in den Hintergrund. Das lateinische Tierepos des 12. Jh.s hat keinen direkten Nachfolger gefunden. Der um 1280 in Flandern entstandene, in elegischen Distichen gehaltene Reynardus Vulpes ist eine lateinische Übersetzung des um 1260 verfassten mittelniederländischen Van den vos Reynaerde. Ähnlich wie seine Vorlage lässt der Autor der lateinischen Version außer den Hauptakteuren eine große Schar von Anklägern auftreten, die aber nicht zu Wort kommen, im niederländischen Epos unter anderen foret adent dat euerswijn (v. 1845), in der lateinischen Fassung aper, porcus und sus (v. 873). So ist es auch im niederdeutschen Reynke de Vos von 1498 (I, cap.19), und in Goethes Bearbeitung des Stoffs von 1793 (Reineke Fuchs IV, 65). Der Verfasser der ersten hochdeutschen Version Von Reinicken Fuchs (Frankfurt 1544) nennt hier keine Einzeltiere mehr, sondern nur ja dreissig oder freilich mehr. Die 1567 von einem jungen Landsknecht namens Hartmann Schopper verfasste dritte lateinische Version benutzt die nhd. Übersetzung von 1544 und nennt ebenfalls weder Schwein noch Eber: Hoc ceterae cum senserant / Audiverantque bestiae / Coepere rursus conqueri / De turpis ausis Reinikes (De astutia vulpeculae opus poeticum I, 19).

Ausg.: Ecbasis cuiusdam captivi per tropologiam, ed. W. Trillitzsch, 1964; Ysengrimus, ed. J. Mann, 1987; Roman de Renart, ed. J. Dufournet, 1985. ND 1999; Reynardus Vulpes, ed. R. B. C Huygens, 1968; Reynke de Vos, 1498, ed. Prien/Leitzmann 1960; Von Reinicken Fuchs (1544), ed. H. Menke, 1981; Hartmann Schopper: Opus Poeticum, 1567.

Lit.: F. P. Knapp: Das lateinische Tierepos, 1979; W. Schouwink: The Sow Salaura and her Relatives, in: Epopée Animale, Fable, Fabliaux, Actes IV Colloque Société Internationale Renardienne, ed. G. Bianciotto/M. Salvat, 1984, 509-524; J. M. Ziolkowski: Talking Animals. Medieval Latin Beast Poetry 750-1150, 1993;H. Vögel: Ysengrims Haut, in: Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur, ed. B. Jahn/O. Neudeck, 2004, 63-70.

Wilfried Schouwink

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