Die Maus tritt in der deutschsprachigen Literatur des MAs und des 16. Jh.s überwiegend in Fabeln auf, die in der äsopischen sowie, seltener, der Pañcatantra-Tradition stehen. Daneben gibt es im Rahmen der Cyrillus-Fabeln, der Predigt- und Exempelliteratur sowie autorenspezifisch (besonders Waldis) auch einige Neuansätze.
Wie etwa an der Fabel von der Stadt- und der Landmaus (Dicke/Grubmüller, Nr. 541) ersichtlich, werden der Maus z. T. gegensätzliche Attribute wie einerseits Verwöhntheit, Gefräßigkeit, Neugier, Risikobewusstsein, Nähe zum Menschen, andererseits Frugalität, Bescheidenheit, Sicherheitsdenken, Ängstlichkeit zugewiesen.
Als zentrales Motiv erscheint ihre Kleinheit und (vermeintliche) Unbedeutendheit: Die in deutschsprachigen Fabel- und Schwanksammlungen breit rezipierte Romulus-Fabel vom Berg, der unter lautem Getöse [e]in kleine lecherliche Mauß (Waldis: Esopus, I,21, V. 18) gebiert, warnt davor, große Erwartungen zu wecken, ohne sie erfüllen zu können. Hartmann von Aue baut die Fabel leicht variiert in die Joie de la curt-Episode des Erec (V. 9051-9058) ein. Von der nicht zu verachtenden Nützlichkeit des scheinbar Geringen handelt die breit rezipierte Romulus-Fabel vom → Löwen und der Maus (Dicke/Grubmüller, Nr. 391). Die plotverwandte Cyrillus-Fabel von → Löwe, → Fuchs und Maus verlagert den inneren Konflikt des Löwen auf zwei gegensätzlich handelnde Figuren: Der Löwe behandelt die Maus mit Respekt, der Fuchs verhöhnt sie. Als beide in der Falle sitzen, rettet die Maus nur den Löwen und belehrt den Fuchs ausführlich über die Wirkmächtigkeit vil kleiner ding (Sebastian Münster: Spiegel der wyßheit, I,18, S. 59).
Ihre Nagefähigkeit setzt die Maus auch in anderen Fabeln – aus Hilfsbereitschaft, Großmut oder Dankbarkeit – zum Nutzen anderer Tiere ein, die sie aus netzartigen Fallen befreit (Dicke/Grubmüller, Nr. 202, 340, 424, 426, 556). In einigen Fabeln spielt die zerstörerische Kraft des Nagens eine Rolle: Mäuse zernagen in der ätiologischen Fabel über den Streit zwischen → Hunden, → Katzen und Mäusen (16. Jh.; Dicke/Grubmüller, Nr. 317) einen Freibrief, den die Katzen für die Hunde aufbewahren sollten, und machen sich jene damit zu dotfeinden (Hans Sachs, Nr. 374, V. 44, Goetze/Drescher, Bd. 4). In der Pañcatantra-Fabel (Pforr: BdB, cap. 5) von der Mausjungfrau sowie der u. a. von Marie de France und dem Stricker bearbeiteten Romulus-Fabel von der Maus bzw. dem Kater als Freier (Dicke/Grubmüller, Nr. 334) spielt die Fähigkeit, einen Berg, Steinturm bzw. -mauer durch Nagen zum Einsturz bringen zu können, eine Rolle.
Als beliebtes Sujet erscheint die Interaktion der Maus mit ihr physisch überlegenen Fressfeinden wie → Katze, Wiesel, → Fuchs und Greifvögeln (Dicke/Grubmüller, Nrr. 132, 167, 202, 213, 342, 343, 426, 427); einige Fabeln inszenieren diesen Konflikt mit noch unerfahrenen jungen Mäusen (Dicke/Grubmüller, Nrr. 338, 418, 423, 590). In der breit rezipierten und episch im ‚Frosch-Mäuse-Krieg‘ weiter entfalteten Romulus-Fabel ‚Frosch und Maus‘ (Dicke/Grubmüller, Nr. 167) trifft die Maus auf den zunächst hilfsbereit wirkenden, tatsächlich aber hinterhältigen → Frosch; als Profiteur der Situation tritt ein Weih auf den Plan, der beide frisst. In Waldisʼ (I,3) auf Dorpius zurückgehender Variante erhält die Maus eine ebenbürtige Rolle, indem sie mit dem Frosch einen Krieg wegen der Hoheitsrechte an einem kleinen Teich führt; Waldis bezieht dies in der moralisatio auf städtische Unruhen.
Die gegen Mäuse eingesetzten Fallen und tierischen Jäger (Dicke/Grubmüller, Nrr. 342, 427, 541) spiegeln die menschliche Perspektive auf die Maus als Nahrungsschädling.
Ausg.: Sebastian Münster: Spiegel der wyßheit, ed. R. Günthart, 1996; Burkhard Waldis: Esopus, ed. L. Lieb, J. Mohr u. H. Vögel, 2011. [Alle anderen Ausgaben sind in Dicke/Grubmüller verzeichnet].
Lit.: G. Dicke/K. Grubmüller: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987.
Simone Loleit