Tiger – B.2 Bibel und Bibelexegese

Nach dem Untergang des römischen Reiches wird der Tiger in Europa bis ins 15. Jh. nicht mehr gesehen. Er lebt aber weiter in der Literatur; von den vielen Stellen kann auch hier nur eine Auswahl präsentiert werden.

In den verschiedenen Versionen des Physiologus kommt der Tiger nicht vor. An seiner Stelle steht der myrmikoleon, der im 5. Jh in der lateinischen Übersetzung des myrmikoleon der Septuaginta, Iob. 4, 11, durch Hieronymus in der Vulgata mit tigris wiedergegeben wird.

Eine erste Erwähnung des Tigers in der christlichen Literatur findet sich aber schon bei Ambrosius (Hexaemeron, 6, 4, 21), der die Geschichte über die Tigerjagd bei Plinius aufnimmt und als positives Exemplum für die Mutterliebe verwendet, welches dann in die mittelalterlichen Bestiarien einfließt.

Die Kommentatoren der Vulgata-Bibelstelle geben unterschiedliche – meist negative – Interpretationen: Bei Eucherius von Lyon (formula 4; Eucherii Lugdunensis Formulae Spiritalis Intellegentiae, Instructionum Libri Duo, p. 30) steht der Tiger für die weibliche Arroganz, bei Ennodius, (Epistula 3, 15, pp. 111-112.) für die weibliche Grausamkeit.

Gregor in seinem Hiob-Kommentar stellt fest, dass der myrmikoleon der Septuaginta (den wir auch im Physiologus finden) der Tiger ist, den er als Metapher für den Heuchler, den Verführer, d.h. den Teufel deutet (lib. 5, 20, 39, p. 245, und 22, 43, pp. 247-248). Seinen Kommentar übernimmt u.a. Hrabanus Maurus, Patrologiae Latinae 111, de uniuerso, lib. 8, cap. 1, Sp. 219; Biblia Latina cum Glossa Ordinaria, Bd. 2, pp. 385-86, und Thomas Cantimpratensis, De natura rerum, 4, 97.

Bei Isidor (Etymologiae 12, 2, 7), und vielen anderen finden wir die Etymologie des Varro, Varro, De lingua latina, 5, 100, wieder, z.B. in einem Rätsel des Eusebius von Wearmouth (Eusebius, aenigma 43, p. 253. Cf. E. VON ERHARDTSIEBOLD, p. 10) und in den mittelalterlichen Bestiarien.

Im 11. Jh. verbindet Petrus Damianus in der Art des Physiologus eine typologische Deutung mit der naturwissenschaftlichen Legende. Er übernimmt die antike Geschichte der Tigerjagd und interpretiert die Tigerin als den Teufel, ihr Lager ist die Welt, und das Bild in der gläsernen Kugel zeigt dem Teufel die Seinen; der Jäger, der ihm die Jungen entreißt, ist der Priester.

Ausg.: Eucherius Lugdunensis: Formulae Spiritalis Intellegentiae, Instructionum Libri Duo, ed. C. MANDOLFO, 2004, p. 30; Ennodius: Magni Felicis Ennodi Opera, ed. F. VOGEL, ND 1961; S. Gregorius Magnus: Moralia in Iob Libri I-X, ed. M. ADRIAEN, 1979, Bd. 1, lib. 5, 20, 39, 245, und 22, 43, 247-248; Biblia Latina cum Glossa Ordinaria, Facsimile Reprint of the Editio Princeps Adolph Rusch of Strassburg 1480/81, 1992, Bd. 2, 385-86; Tatuinus: Variae Collectiones Aenigmatum Merovingicae, ed. M. DEMARCO, 1968, 25; E. VON ERHARDT-SIEBOLD: Die lateinischen Rätsel der Angelsachsen, 1925, 10; Eusebius: Aenigmata, 2009.

Lit.: C.WILLE: Le Tigre dans la tradition latine du Moyen Âge, Reinardus 22 (2010), 176-197.

Clara Wille

Zurück zu "Tiger" | Zurück zu "B.1 Antike Zoologie" | Weiter zu "C. Lateinische Literatur"