Ameise – E.4 – III.1 Fabel

Die aus dem griechisch-äsopischen Traditionsstrang stammende Fabel von der Ameise und der → Grille (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 35) ist auch in die meisten der mittelhochdeutschen Fabelsammlungen mit der üblichen Deutung übernommen worden. Wohl unter dem Einfluss der biblisch-christlichen Tradition (Prv 6,6-8; 30,25) wird der Ameise ein Fleiß zugeschrieben, der es dem Tier ermöglicht, planvoll und weit vorausschauend zu handeln und sich beizeiten im Sommer (der Jugend) auf die Notlage des Winters /des Alters) vorzubereiten. Die Grille hingegen repräsentiert den faulen, arbeitsscheuen Müßiggänger, der nur auf sein Vergnügen bedacht ist und in Notzeiten auf die Hilfe anderer angewiesen ist, die ihm jedoch mit Recht versagt bleibt. Dabei geht es keineswegs immer nur um materielle Vorsorge. Ulrich Boner empfiehlt zugleich auch das Bemühen um gesellschaftliches Ansehen (êre) und um allgemein anerkannte charakterliche Qualitäten (tugent). Auch im Wolfenbütteler und Magdeburger Äsop wird in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit des Ehrerwerbs (neben der Sicherung materieller Güter) hingewiesen; der im Bildteil dieser beiden Fabelbearbeitungen explizit artikulierte Gedanke, dass der Gesang der Grille auch als Dienst an der Gesellschaft verstanden werden könnte, wird im Auslegungsteil nicht wieder aufgenommen. Ebenso wenig wird das Verhalten der Ameise (etwa als hartherziger Egoismus) kritisiert, obwohl diese Deutung doch nahe liegen könnte, wenn etwa im Nürnberger Prosa-Äsop die Fabel überschrieben ist mit: Von der amaizz die mit der grill nicht tailen wolt.

Die um geistliche Auslegungen ergänzten Sammlungen (Magedeburger Prosa-Äsop, Nürnberger Prosa-Äsop) übernehmen die kontrastive Gegenüberstellung der Fabelakteure und deuten die Ameise als den um sein Seelenheil besorgten Menschen, der sich mit guten Werken rechtzeitig erfolgreich um das ewige Leben bemüht, während die Grille für die der Diesseitigkeit der Welt verhafteten Menschen steht, die der ewigen Verdammnis ausgeliefert sind.

Im Streitgespräch zwischen → Fliege und Ameise (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 150) repräsentiert die Fliege die maßloseund unverschämte Selbstüberschätzung und Überheblichkeit und wird von der Ameise, die ihren eigenen Stellenwert richtig erkennt und für ihre (allgemein sozialverträglichere) Lebensweise selbstbewusst eine höhere Anerkennung einfordert, mit überzeugenden Argumenten auf ihr falsches Selbstbild hingewiesen.

Erst im Anschluss an Steinhöwel finden sich deutsche Bearbeitungen der Fabel von der → Taube, die eine Ameise vor dem Ertrinken rettet und die anschließend von der Ameise vor einem Vogelsteller gewarnt wird (Dicke/Grubmüller, Nr. 37). Diese nicht mit spezifischen Charaktereigenschaften der Tiere verbundene Fabel ist als Ermahnung zur Dankbarkeit verstanden worden oder als Appell, Gutes mit Gutem zu vergelten.

In den Cyrillusfabeln zeigt die Ameise durchaus konträre Eigenschaften. Als intellektuell überlegen präsentiert die Ameise sich, wenn sie dem sich seiner Goldfarbe rühmenden Chamäleon rät, seine Augen zu schließen (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 33), oder wenn sie dem → Fuchs empfiehlt, sich mit seinem Loch zufrieden zu geben und nicht zu ebener Erde seine Wohnung bauen zu wollen (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 34). Die geflügelte Ameise, die sich wie → Nachtigall und → Biene am Leben in der freien Luft erfreut (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 36), will beim Wintereinbruch wieder in den alten Bau, wird aber abgewiesen, da sie nichts zum Leben der anderen Ameisen beigetragen hat. Die Komplexität der Fabel ermöglicht späteren Bearbeitern durchaus Deutungsnuancierungen. Hans Wilhelm Kirchhof etwa versteht sie als Warnung vor Fürwitz, Wankelmut und ständig neuen Diensten, während Eucharius Eyring daraus u. a. die Lebensweisheit zieht, dass es keinen Vorteil ohne gleichzeitigen Nachteil gebe.

Ausg.: Ulrich Boner: Der Edelstein, ed. F. Pfeiffer, 1844, Nr. 41f.; Wolfenbüttler Äsop. Die Fabeln Gerhards von Minden in mittelniederdeutscher Sprache, ed. A. LEITZMANN, 1898, Nr. 74, 122; Gerhard von Minden: Magdeburger Äsop, ed. W. SEELMANN, 1878, Nr. 56, 62; Der Nürnberger Prosa-Äsop, ed. K. GRUBMÜLLER, 1994, Nr. 33; Heinrich Steinhöwel: Äsop, ed. H. Oesterley, 1873, Nr. 37, 77, 108; Der Magdeburger Prosa-Äsop, in: B. DERENDORF: Der Magdeburger Prosa-Äsop, 1996, S. 246-480. Die deutsche Übersetzung der Cyrillusfabeln durch Ulrich von Pottenstein ist leider noch nicht ediert; Editionsproben in: U. BODEMANN: Die Cyrillusfabeln und ihre deutsche Übersetzung durch Ulrich von Pottenstein, 1988, S. 148-179, hier die Fabel von der fliegenden Ameise: S. 159-163. Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth, ed. H. OESTERLEY, 1869, Reprint 1980, Nr. 6,275f., 7,150; 7,65a; Eucharius Eyering, Proverbiorum Copia (Eisleben 1601-1604), Reprint 2003.

Lit.: G. DICKE/K. GRUBMÜLLER: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987.

Dietmar Peil

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