AMEISE – Deutsche Literatur

Ameise – E.4 – II.1 Physiologus, Bestiarien

Die Deutung der drei Proprietäten der Ameise durch die Millstätter Reimfassung sowie die Wiener Prosa (Kornsammlung, aber keine Kornabgabe [= weise Jungfrauen], Spaltung des Korns [= die beiden Schriftsinne], Verschmähung der Gerste [= Warnung vor Häresie]) entspricht ganz der lateinischen Tradition (→ C.II.1). Der Physiologus Theobaldi deutsch deutet – entsprechend seiner lateinischen Vorlage – die Ameise als exempel der arbeit (293) mit spirituellen (den verdammten Juden nicht zugänglichen) Dimensionen: Der Christenmensch solle – wie die Ameise für den Winter – Vorsorge treffen für das Jüngste Gericht, er solle sich an das Neue Testament halten und das Alte – wie die Ameise die Gerste – verschmähen, und er solle – entsprechend der kornspaltenden Ameise – die zwei Auslegungsmöglichkeiten der Heiligen Schrift beachten. Die übrigen deutschsprachigen Physiologus-Versionen enthalten kein Kapitel über die Ameise.

Ausg.: Der altdeutsche Physiologus, ed. F. MAURER, 1966; Physiologus Theobaldi deutsch, ed. D. SCHMIDTKE 1967, 270-30.

Sabine Obermaier

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Ameise – E.4 – II.2 Tierkunde, Enzyklopädik

Wie schon seine Vorlage (Thomas von Cantimpré in der Redaktion III) ordnet Konrad von Megenberg die Ameise bei den → wurmen ein (gemeint sind damit Lebewesen, die sich ohne ‚Unkeuschheit‹ vermehren). Der Vergleich mit den → Bienen fehlt schon in Thomas III, ansonsten werden sämtliche bei Thomas genannten Eigenschaften erwähnt: der ausgeprägte Geruchssinn (was empirisch nachweisbar ist, indem man Oreganum oder Schwefel auf den Ameisenhaufen legt, was die Ameisen vertreibt), die Zunahme an Stärke mit dem Alter, ihre Aktivität bei Vollmond, ihr Beenden der Arbeit bei Neumond, überhaupt ihre Emsigkeit sowie die Tatsache, dass sie – dem Menschen gleich – ihre Toten begraben, und ihre Klugheit im Umgang mit dem gesammelten Korn. Eine Auslegung des Tiers unterbleibt.

[…]

Ausg.: Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, ed. R. LUFF/G. STEER, 2003; Thomas von Cantrimpré: Liber de naturis rerum. Redaktion III (Thomas III), ed. Projektgruppe B2 des SFB 226 Würzburg-Eichstätt unter Leitung von B. K. Vollmann, [1992, masch.].

Sabine Obermaier

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Ameise – E.4 – III.1 Fabel

Die aus dem griechisch-äsopischen Traditionsstrang stammende Fabel von der Ameise und der → Grille (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 35) ist auch in die meisten der mittelhochdeutschen Fabelsammlungen mit der üblichen Deutung übernommen worden. Wohl unter dem Einfluss der biblisch-christlichen Tradition (Prv 6,6-8; 30,25) wird der Ameise ein Fleiß zugeschrieben, der es dem Tier ermöglicht, planvoll und weit vorausschauend zu handeln und sich beizeiten im Sommer (der Jugend) auf die Notlage des Winters /des Alters) vorzubereiten. Die Grille hingegen repräsentiert den faulen, arbeitsscheuen Müßiggänger, der nur auf sein Vergnügen bedacht ist und in Notzeiten auf die Hilfe anderer angewiesen ist, die ihm jedoch mit Recht versagt bleibt. Dabei geht es keineswegs immer nur um materielle Vorsorge. Ulrich Boner empfiehlt zugleich auch das Bemühen um gesellschaftliches Ansehen (êre) und um allgemein anerkannte charakterliche Qualitäten (tugent). Auch im Wolfenbütteler und Magdeburger Äsop wird in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit des Ehrerwerbs (neben der Sicherung materieller Güter) hingewiesen; der im Bildteil dieser beiden Fabelbearbeitungen explizit artikulierte Gedanke, dass der Gesang der Grille auch als Dienst an der Gesellschaft verstanden werden könnte, wird im Auslegungsteil nicht wieder aufgenommen. Ebenso wenig wird das Verhalten der Ameise (etwa als hartherziger Egoismus) kritisiert, obwohl diese Deutung doch nahe liegen könnte, wenn etwa im Nürnberger Prosa-Äsop die Fabel überschrieben ist mit: Von der amaizz die mit der grill nicht tailen wolt.

Die um geistliche Auslegungen ergänzten Sammlungen (Magedeburger Prosa-Äsop, Nürnberger Prosa-Äsop) übernehmen die kontrastive Gegenüberstellung der Fabelakteure und deuten die Ameise als den um sein Seelenheil besorgten Menschen, der sich mit guten Werken rechtzeitig erfolgreich um das ewige Leben bemüht, während die Grille für die der Diesseitigkeit der Welt verhafteten Menschen steht, die der ewigen Verdammnis ausgeliefert sind.

Im Streitgespräch zwischen → Fliege und Ameise (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 150) repräsentiert die Fliege die maßloseund unverschämte Selbstüberschätzung und Überheblichkeit und wird von der Ameise, die ihren eigenen Stellenwert richtig erkennt und für ihre (allgemein sozialverträglichere) Lebensweise selbstbewusst eine höhere Anerkennung einfordert, mit überzeugenden Argumenten auf ihr falsches Selbstbild hingewiesen.

Erst im Anschluss an Steinhöwel finden sich deutsche Bearbeitungen der Fabel von der → Taube, die eine Ameise vor dem Ertrinken rettet und die anschließend von der Ameise vor einem Vogelsteller gewarnt wird (Dicke/Grubmüller, Nr. 37). Diese nicht mit spezifischen Charaktereigenschaften der Tiere verbundene Fabel ist als Ermahnung zur Dankbarkeit verstanden worden oder als Appell, Gutes mit Gutem zu vergelten.

In den Cyrillusfabeln zeigt die Ameise durchaus konträre Eigenschaften. Als intellektuell überlegen präsentiert die Ameise sich, wenn sie dem sich seiner Goldfarbe rühmenden Chamäleon rät, seine Augen zu schließen (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 33), oder wenn sie dem → Fuchs empfiehlt, sich mit seinem Loch zufrieden zu geben und nicht zu ebener Erde seine Wohnung bauen zu wollen (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 34). Die geflügelte Ameise, die sich wie → Nachtigall und → Biene am Leben in der freien Luft erfreut (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 36), will beim Wintereinbruch wieder in den alten Bau, wird aber abgewiesen, da sie nichts zum Leben der anderen Ameisen beigetragen hat. Die Komplexität der Fabel ermöglicht späteren Bearbeitern durchaus Deutungsnuancierungen. Hans Wilhelm Kirchhof etwa versteht sie als Warnung vor Fürwitz, Wankelmut und ständig neuen Diensten, während Eucharius Eyring daraus u. a. die Lebensweisheit zieht, dass es keinen Vorteil ohne gleichzeitigen Nachteil gebe.

Ausg.: Ulrich Boner: Der Edelstein, ed. F. Pfeiffer, 1844, Nr. 41f.; Wolfenbüttler Äsop. Die Fabeln Gerhards von Minden in mittelniederdeutscher Sprache, ed. A. LEITZMANN, 1898, Nr. 74, 122; Gerhard von Minden: Magdeburger Äsop, ed. W. SEELMANN, 1878, Nr. 56, 62; Der Nürnberger Prosa-Äsop, ed. K. GRUBMÜLLER, 1994, Nr. 33; Heinrich Steinhöwel: Äsop, ed. H. Oesterley, 1873, Nr. 37, 77, 108; Der Magdeburger Prosa-Äsop, in: B. DERENDORF: Der Magdeburger Prosa-Äsop, 1996, S. 246-480. Die deutsche Übersetzung der Cyrillusfabeln durch Ulrich von Pottenstein ist leider noch nicht ediert; Editionsproben in: U. BODEMANN: Die Cyrillusfabeln und ihre deutsche Übersetzung durch Ulrich von Pottenstein, 1988, S. 148-179, hier die Fabel von der fliegenden Ameise: S. 159-163. Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth, ed. H. OESTERLEY, 1869, Reprint 1980, Nr. 6,275f., 7,150; 7,65a; Eucharius Eyering, Proverbiorum Copia (Eisleben 1601-1604), Reprint 2003.

Lit.: G. DICKE/K. GRUBMÜLLER: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987.

Dietmar Peil

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Ameise – E.4 – III.2 Tierepos

Während die Ameise in der Fabel als Einzelwesen auftritt, erscheint sie im Tierepos (wenn überhaupt) gleich im Massenverband ihrer Artgenossinnen; dies schließt jedoch nicht aus, dass (entgegen der biblischen Tradition [Prv 6,7]) nicht doch Führungspersönlichkeiten herausgestellt werden. Heinrich der Glichesaere lässt in seinem Fuchs Reinhart den → Löwenkönig Vrevel mit usurpatorischen Absichten über einen Ameisenhaufen herfallen und ihn zerstören. Der Herrscher der Ameisen, der auch noch über tausend weitere Ameisenburgen gebietet, kriecht aus Rache in Vrevels Ohr und von dort ins Hirn und verursacht dem Löwen unerträgliche Schmerzen; erst Reinhart, der die Attacke des Ameisenherrschers beobachtet hat, kann Vrevel mit einer List von seinem Leid befreien. Der Ameisenherrscher kann sein Leben nur retten, indem er dem → Fuchs alle seine Burgen unterstellt. Als historischen Hintergrund für diese Episode hat man die staufische Burgenpolitik, insbesondere die Zerstörung der elsässischen Burg Girbaden (1162) und die Eroberung Mailands (1158 oder 1162), erwogen.

In Rollenhagens Froschmeuseler sind die Ameisen als betrügerische Bergleute (schon Herodot kennt Gold grabende Ameisen) tätig, die den Fuchs um einen Großteil seines Vermögens bringen. Als eigenständige Protagonisten treten die Ameisem in Teofilo Folengos Ameisen- und Mückenkrieg auf. In dieser von Hans Christoph Fuchs auch ins Deutsche übertragenen Epenparodie, die in der Tradition der Batrachomyomachia steht, werden die militärischen Führer der Ameisen durch Eigennamen individualisiert.

Ausg.: Der Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich, ed. K. DÜWEL, 1984; Georg Rollenhagen: Froschmeuseler, ed. D. Peil, 1989; Hans Christoph Fuchs: Mückenkrieg, ed. F. W. Genthe, 1833.

Lit.: U. SCHWAB: Zur Datierung und Interpretation des Reinhart Fuchs, 1967,bes. 127-135; S.WIDMAIER: Das Recht im »Reinhart Fuchs«, 1993, bes. 130-139; J.-M. PASTRÉ: Folklore et renardie dans le Reinhart Fuchs: la destruction de la fourmilière et la structure des contes merveilleux, Reinardus 11 (1998), 149-160; G. RIEDL: ... deren beyspiel man sol volge thun. Das satirische Tierepos als lehrhaftes Geschichtsexempel: Der Mückenkrieg des Hans Christoph Fuchs (1600). In: Tierepik und Tierallegorese (2004), 279-298.

Dietmar Peil

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