Hirsch – E.1 – IV.1 Narrative Texte

Sagaliteratur: Oftmals tritt der Hirsch (ano. Hjörtr) in der S. als bei der Jagd verfolgtes Tier auf. Hierbei kann im Wesentlichen zwischen der Funktion als Jagdbeute und der Funktion als Verlocker unterschieden werden. Als Jagdwild ist der Hirsch in der S. ein bekannter Vertreter wobei der Hirschjagd bis auf wenige Ausnahmen (Breta sögur, Bevers saga) eine sportliche Funktion der Nahrungsbeschaffung übergeordnet werden kann.

Die Funktion des Verlockers erfüllt der Hirsch primär in den riddarasögur. Ein Jäger wird von einem besonders schönen, großen oder sonst wie auffälligen Hirsch von seinem Jagdgefolge fortgelockt und gelangt in ein Märchenreich, wo er eine Begegnung der märchenhaften Art hat. Diese Szenen gehen oft mit dem Phänomen der Tierverwandlung einher, wobei es zumeist Frauen sind, die in Hirschgestalt schlüpfen können. Jedoch wird auch von Christus berichtet, der den Gestaltwechsel mit dem Hirsch vollzieht (Placidus saga). In den Hirschverfolgungen der Karlamagnús saga handelt es sich um Führungen, bei denen Gott die Gestalt des Hirsches wählt und der Hirsch in einem direkten Zusammenhang mit einer Lichtsymbolik gesehen werden muss. Überhaupt ist mit dem Hirsch innerhalb der S. die Symbolik des Lichtes/der Sonne und der Fruchtbarkeit/Regeneration unmittelbar verknüpft, dies wird besonders in den christlich geprägten Sagas deutlich (Karlamagnús saga, Barlams ok Josaphats saga, Vgl. Sólarljóð). Offensichtlich ist diese Symbolik mitunter auf das nachwachsende Geweih des Hirsches zurückzuführen. Eine entgegengesetzte Funktion erfüllt der beeindruckende Hirsch, welcher Dietrich von Bern in der Þiðreks saga af Bern von der Jagd fortlockt und ihn ins Jenseits führt. Der lebensbejahenden Sonnensymbolik ist hier die Funktion als Führer in den Tod gegenübergestellt. Der Hirsch steht auch andernorts in der S. im Zusammenhang mit dem Tod (Seven 2009).

Auffallend ist, dass den Hirschverwandlungen in der S. in der Regel anders als in z.B. vielen Märchen kein Fluch oder Tabubruch zugrunde liegt. Es scheint vielmehr eine Vorstellung von Tier-Mensch-Identität zugrunde zu liegen und die Haut bzw. Kleidung spielt evtl. eine nicht unbedeutende Rolle für diese Form der Verwandlung (Gibbons saga, Hjálmþers saga ok Ölvis). Die Bedeutung der Haut bei den Hirschverwandlungen wird z.B. deutlich indem Thorir Hjörtr in der Oláfs saga Tryggvasonar nach dem Tod seines menschlichen Körpers in Gestalt eines weißen Hirsches erscheint, von dem nach seiner Erjagung durch einen Hund nur noch eine leere Haut übrig bleibt. Offensichtlich spielen bei den Hirschverwandlungen Vorstellungen von tierischen Attributen eine große Rolle. Thorir Hjörtr wird u. a. besondere Geschwindigkeit zugeschrieben, wie sie innerhalb der S. ein eindeutiges Attribut des Hirsches ist. Auch die Karlamagnús saga kennt die sprichwörtliche Geschwindigkeit des Hirsches, sie wird hier zusammen mit der Kampfeswut des Löwen erwähnt. Die Schnelligkeit des Hirsches wird jedoch auch in Zusammenhang mit Feigheit gebracht (Alexanders saga).Die Hirschattribute spielen offensichtlich eine Rolle bei der Wahl von Hirschnamen für Menschen. So kann auch Sigurðr Hjörtr zumindest auf einer untergeordneten Ebene ein Hirschbezug über die Gestalt Sigurðr Fáfnisbanis aus dem Nibelungenstoff zugeordnet werden.

Die Hirschattribute wie Stattlichkeit, Schnelligkeit und auch die Symbolik des Lichts und der Fruchtbarkeit klassifizieren den Hirsch als Seelentier großer Helden wie z.B. Jesus Christus oder auch Sigurðr Fáfnisbani, der in der Þiðreks saga af Bern von einer Hirschkuh gesäugt wird. So finden sich auch viele Hinweise auf Gefährlichkeit des Hirschgeweihs im Kampf und auf Ähnlichkeit desselben mit einer Krone. In der Placidus saga trägt Christus in Hirschgestalt das Kreuz im Geweih, die Symbole sind in der christlich geprägten an. Lit. mitunter ähnlich konnotiert (Waffe und Symbol des Lebens). Die Herrschaftlichkeit des Hirsches findet u.a. in einem Traum im Sögubrot af fornkonungum Niederschlag. Hier wird eine hirschgestaltige Fylgja eines Königs von einem → Drachen getötet. Die Gegenüberstellung von → Drachen bzw. → Schlangen und Hirschen ist offensichtlich einer mythologischen Vorstellung von Sonne und sonnenverschlingendem Ungeheuer entlehnt (Seven 2009) und findet im An. ihren Ausdruck im Sögubrot af fornkonungum, stärker jedoch innerhalb der eddischen Dichtung.

Vor ein bislang nicht zu lösendes philologisches Problem hat der Ausdruck „riða á hirti“ aus der Þorláks saga die mediävistische Forschung gestellt. Sie ist jedoch zu dem Konsens gelangt, dass der Begriff mit „von Bedeutung sein“ sinngemäß am besten zu erfassen ist

Ausg.: Alexanders saga, Übersetzung von B. JÓNSSON, 1925; Barlaams ok Josaphats saga, ed. M. RINDAL, 1981; Bevers saga. In: Fornsögur Suðrlanda, ed. G. CEDERSCHJÖLD, 1884, 209-267; Breta sögur. In: Hauksbók, ed. F. JÓNSSON, 1892-96; Gibbons saga, ed. R. I. PAGE, 1960; Hjalmters ok Ölvers saga. In: Fornaldar sögur nordrlanda, Bd. 3, ed. C. C. RAFN, 1830; Karlamagnús saga Teile 1,3,7 und 9, ed. A. LOTH, 1980; Karlamagnus saga ok kappa hans, ed. C. R. UNGER, 1860; Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, Bd. 1, ed. O. HALLDORSSON, 1958; Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, Bd. 2, ed. O. HALLDORSSON, 1961; Placidus Saga. In: Heilagra Manna søgur, ed. C. R. UNGER, 1877; Saga Oláfs Tryggvasonar, ed. F. JONSSON, 1932; Samsons saga fagra, ed. J.WILSON, 1953; Sigrgarđs saga ok Valbrands.In: Late medieval icelandic romances, Bd. 5, ed. A. LOTH, 1956; Sögubrot af fornkonungum. In: Sögur danakonunga, ed. C. PETERSENS/ E.OLSON, 1919-1925; Völsunga saga. The Saga of the Volsungs, ed. R. G. FINCH, 1965; Þiđriks saga af Bern, Bd. I u. II., ed. H. BERTELSEN, 1906-1911; Þorláks saga. In: Byskupasögur, 2. Buch, ed. J. HELGASON, 1978.

Lit.: L.DITTRICH/ S. DITTRICH: Lexikon der Tiersymbole, 2004; B. DOMAGALSKI: Der Hirsch in spätantiker Literatur und Kunst, 1990; W. HEIZMANN: Hirsch. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14, 1999, 588-612; O. HÖFLER: Siegfried, Arminius und die Symbolik, 1961; J. H. JØRGENSEN: Der redende Hirsch in „Nordeuropa“, Bd. 23, 1988, 52-56; W. LAMPEN: Hubertus. Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, 1996, 295f; F. LOSCH: Balder und der weiße Hirsch, 1892; R. MEISSNER: Die Kenningar der Skalden, 1921; PEUCKERT: Hirsch. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 4, 1987, 86-110; C. PSCHMADT: Die Sage von der verfolgten Hinde, 1912; L. RÖHRICH: Mensch und Tier im Märchen. Schweizerisches Archiv für Volkskunde 49 (1953), 165-193; K. SCHIER: Sagaliteratur, 1970; demnächst: H. SEVEN: Wegweiser – Seelentier – Drachentöter. Die Hirschsymbolik in Edda und Saga. Magisterarbeit an der Universität Göttingen 2009.

Hauke Seven

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