HIRSCH – Nordische Literatur

Hirsch – E.1 – II.1 Physiologus, Bestiarien

In der isländischen Übersetzung des Physiologus wird der Hirsch unter der lateinischen Bezeichnung cervus erwähnt. Unter Bezug auf Psalm 42,2 wird er als Todfeind der Schlange beschrieben, die er aus dem Wasser zieht und unter seinen Schalen zertrampelt. Der Hirsch wird hier mit Christus gleichgesetzt, der gegen den Teufel kämpft.

Ausg.: The Icelandic Physiologus, ed. H. HERMANNSSON, 1938.

Hauke Seven

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Hirsch – E.1 – IV.1 Narrative Texte

Sagaliteratur: Oftmals tritt der Hirsch (ano. Hjörtr) in der S. als bei der Jagd verfolgtes Tier auf. Hierbei kann im Wesentlichen zwischen der Funktion als Jagdbeute und der Funktion als Verlocker unterschieden werden. Als Jagdwild ist der Hirsch in der S. ein bekannter Vertreter wobei der Hirschjagd bis auf wenige Ausnahmen (Breta sögur, Bevers saga) eine sportliche Funktion der Nahrungsbeschaffung übergeordnet werden kann.

Die Funktion des Verlockers erfüllt der Hirsch primär in den riddarasögur. Ein Jäger wird von einem besonders schönen, großen oder sonst wie auffälligen Hirsch von seinem Jagdgefolge fortgelockt und gelangt in ein Märchenreich, wo er eine Begegnung der märchenhaften Art hat. Diese Szenen gehen oft mit dem Phänomen der Tierverwandlung einher, wobei es zumeist Frauen sind, die in Hirschgestalt schlüpfen können. Jedoch wird auch von Christus berichtet, der den Gestaltwechsel mit dem Hirsch vollzieht (Placidus saga). In den Hirschverfolgungen der Karlamagnús saga handelt es sich um Führungen, bei denen Gott die Gestalt des Hirsches wählt und der Hirsch in einem direkten Zusammenhang mit einer Lichtsymbolik gesehen werden muss. Überhaupt ist mit dem Hirsch innerhalb der S. die Symbolik des Lichtes/der Sonne und der Fruchtbarkeit/Regeneration unmittelbar verknüpft, dies wird besonders in den christlich geprägten Sagas deutlich (Karlamagnús saga, Barlams ok Josaphats saga, Vgl. Sólarljóð). Offensichtlich ist diese Symbolik mitunter auf das nachwachsende Geweih des Hirsches zurückzuführen. Eine entgegengesetzte Funktion erfüllt der beeindruckende Hirsch, welcher Dietrich von Bern in der Þiðreks saga af Bern von der Jagd fortlockt und ihn ins Jenseits führt. Der lebensbejahenden Sonnensymbolik ist hier die Funktion als Führer in den Tod gegenübergestellt. Der Hirsch steht auch andernorts in der S. im Zusammenhang mit dem Tod (Seven 2009).

Auffallend ist, dass den Hirschverwandlungen in der S. in der Regel anders als in z.B. vielen Märchen kein Fluch oder Tabubruch zugrunde liegt. Es scheint vielmehr eine Vorstellung von Tier-Mensch-Identität zugrunde zu liegen und die Haut bzw. Kleidung spielt evtl. eine nicht unbedeutende Rolle für diese Form der Verwandlung (Gibbons saga, Hjálmþers saga ok Ölvis). Die Bedeutung der Haut bei den Hirschverwandlungen wird z.B. deutlich indem Thorir Hjörtr in der Oláfs saga Tryggvasonar nach dem Tod seines menschlichen Körpers in Gestalt eines weißen Hirsches erscheint, von dem nach seiner Erjagung durch einen Hund nur noch eine leere Haut übrig bleibt. Offensichtlich spielen bei den Hirschverwandlungen Vorstellungen von tierischen Attributen eine große Rolle. Thorir Hjörtr wird u. a. besondere Geschwindigkeit zugeschrieben, wie sie innerhalb der S. ein eindeutiges Attribut des Hirsches ist. Auch die Karlamagnús saga kennt die sprichwörtliche Geschwindigkeit des Hirsches, sie wird hier zusammen mit der Kampfeswut des Löwen erwähnt. Die Schnelligkeit des Hirsches wird jedoch auch in Zusammenhang mit Feigheit gebracht (Alexanders saga).Die Hirschattribute spielen offensichtlich eine Rolle bei der Wahl von Hirschnamen für Menschen. So kann auch Sigurðr Hjörtr zumindest auf einer untergeordneten Ebene ein Hirschbezug über die Gestalt Sigurðr Fáfnisbanis aus dem Nibelungenstoff zugeordnet werden.

Die Hirschattribute wie Stattlichkeit, Schnelligkeit und auch die Symbolik des Lichts und der Fruchtbarkeit klassifizieren den Hirsch als Seelentier großer Helden wie z.B. Jesus Christus oder auch Sigurðr Fáfnisbani, der in der Þiðreks saga af Bern von einer Hirschkuh gesäugt wird. So finden sich auch viele Hinweise auf Gefährlichkeit des Hirschgeweihs im Kampf und auf Ähnlichkeit desselben mit einer Krone. In der Placidus saga trägt Christus in Hirschgestalt das Kreuz im Geweih, die Symbole sind in der christlich geprägten an. Lit. mitunter ähnlich konnotiert (Waffe und Symbol des Lebens). Die Herrschaftlichkeit des Hirsches findet u.a. in einem Traum im Sögubrot af fornkonungum Niederschlag. Hier wird eine hirschgestaltige Fylgja eines Königs von einem → Drachen getötet. Die Gegenüberstellung von → Drachen bzw. → Schlangen und Hirschen ist offensichtlich einer mythologischen Vorstellung von Sonne und sonnenverschlingendem Ungeheuer entlehnt (Seven 2009) und findet im An. ihren Ausdruck im Sögubrot af fornkonungum, stärker jedoch innerhalb der eddischen Dichtung.

Vor ein bislang nicht zu lösendes philologisches Problem hat der Ausdruck „riða á hirti“ aus der Þorláks saga die mediävistische Forschung gestellt. Sie ist jedoch zu dem Konsens gelangt, dass der Begriff mit „von Bedeutung sein“ sinngemäß am besten zu erfassen ist

Ausg.: Alexanders saga, Übersetzung von B. JÓNSSON, 1925; Barlaams ok Josaphats saga, ed. M. RINDAL, 1981; Bevers saga. In: Fornsögur Suðrlanda, ed. G. CEDERSCHJÖLD, 1884, 209-267; Breta sögur. In: Hauksbók, ed. F. JÓNSSON, 1892-96; Gibbons saga, ed. R. I. PAGE, 1960; Hjalmters ok Ölvers saga. In: Fornaldar sögur nordrlanda, Bd. 3, ed. C. C. RAFN, 1830; Karlamagnús saga Teile 1,3,7 und 9, ed. A. LOTH, 1980; Karlamagnus saga ok kappa hans, ed. C. R. UNGER, 1860; Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, Bd. 1, ed. O. HALLDORSSON, 1958; Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, Bd. 2, ed. O. HALLDORSSON, 1961; Placidus Saga. In: Heilagra Manna søgur, ed. C. R. UNGER, 1877; Saga Oláfs Tryggvasonar, ed. F. JONSSON, 1932; Samsons saga fagra, ed. J.WILSON, 1953; Sigrgarđs saga ok Valbrands.In: Late medieval icelandic romances, Bd. 5, ed. A. LOTH, 1956; Sögubrot af fornkonungum. In: Sögur danakonunga, ed. C. PETERSENS/ E.OLSON, 1919-1925; Völsunga saga. The Saga of the Volsungs, ed. R. G. FINCH, 1965; Þiđriks saga af Bern, Bd. I u. II., ed. H. BERTELSEN, 1906-1911; Þorláks saga. In: Byskupasögur, 2. Buch, ed. J. HELGASON, 1978.

Lit.: L.DITTRICH/ S. DITTRICH: Lexikon der Tiersymbole, 2004; B. DOMAGALSKI: Der Hirsch in spätantiker Literatur und Kunst, 1990; W. HEIZMANN: Hirsch. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14, 1999, 588-612; O. HÖFLER: Siegfried, Arminius und die Symbolik, 1961; J. H. JØRGENSEN: Der redende Hirsch in „Nordeuropa“, Bd. 23, 1988, 52-56; W. LAMPEN: Hubertus. Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, 1996, 295f; F. LOSCH: Balder und der weiße Hirsch, 1892; R. MEISSNER: Die Kenningar der Skalden, 1921; PEUCKERT: Hirsch. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 4, 1987, 86-110; C. PSCHMADT: Die Sage von der verfolgten Hinde, 1912; L. RÖHRICH: Mensch und Tier im Märchen. Schweizerisches Archiv für Volkskunde 49 (1953), 165-193; K. SCHIER: Sagaliteratur, 1970; demnächst: H. SEVEN: Wegweiser – Seelentier – Drachentöter. Die Hirschsymbolik in Edda und Saga. Magisterarbeit an der Universität Göttingen 2009.

Hauke Seven

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Hirsch – E.1 – IV.2 Lyrische Texte

Eddische Dichtung: Innerhalb der E. findet sich der Hirsch unter anderem in der Kosmologie. So ist in den Grímnismál die Rede von einem bzw. vier Hirschen in der Krone des Weltenbaums Yggdrasill, die den Ästen des Baumes Schaden zufügen. Die Hirsche sind in ihrem Sitz in der Baumkrone der Totenwelt Niflheim und dem in ihr hausenden Drachen Niðhöggr gegenübergestellt. Sicherlich ist in dieser räumlichen Gegenüberstellung eine Darstellung von Hirsch-Schlangen-Antagonismus bzw. die Gegenüberstellung Sonnensymbol-eschatologisches Wesen zu sehen. Freyr, ein Gott mit Fruchtbarkeitsattributen, tötet laut der Gylfaginning einen eschatologischen Riesen mit einem Hirschgeweih. Wie in der christlichen Mythologie wird der Hirsch Eikthyrnir mit dem Entspringen von Gewässern und einer Symbolik von Lebensspende in Verbindung gebracht. Von seinem Geweih aus fließen vier Ströme, die den Ursprung aller Flüsse darstellen. Einer der vier Hirsche in der Krone Yggdrasills heisst Dválin. Die Bezeichnung der Sonne als „Dválins leica“ in den Alvissmál verdeutlicht den Sonnen-Hirschbezug noch.

Der Vergleich eines Menschen mit einem Hirsch wird an drei Stellen vorgenommen. Die Gudrunarkviða II vergleicht Sigurðr mit einem „hochbeinigen Hirsch“ und die Helgakviða Hundingsbana II zieht ein Hirschkalb zum Vergleich mit Helgi Hundingsbani heran. Im Fall Helgis liegt hier offensichtlich eine reine Attributierung mit den positiven Eigenschaften des Hirsches vor (s. Sagaliteratur), im Fall Sigurds greift die Hirschsymbolik in diesem Vergleich tiefer. So bezeichnet sich Sigurdr auch in den Fáfnismál selbst als „herrlicher Hirsch“. Viele Hinweise deuten auf eine Wesensverknüpfung Sigurds mit dem Hirsch (z.B. der Hindarfjall in den Fáfnismál auf dem Brynhild lebt. Vgl. Seven 2009), eine Symbolik die auch im Kampf gegen den Drachen Fáfnir eine Rolle zu spielen scheint (H- und Schlange als Antagonisten, vgl. Sagaliteratur; Höfler 1961, Seven 2009).

Der Hirsch spielt auch eine Rolle bei der Denomination von Schiffen durch Kenningar. So werden in den Skáldskaparmál Schiffe als Hirsche bezeichnet, die Helgaqviða Hundingsbana in fyrri benennt anlandende Schiffe als „Hirsche des Mastbaums“ und auch bei den „Brandungstieren“ der Skáldskaparmál könnte es sich um Hirsche handeln. Diese Symbolik kann wohl zum Teil aus der Geschwindigkeit und der Form (Hörnersteven wie Geweihe) der Schiffe erklärt werden (Meissner 1921, Turville-Petre 1976). Eventuell liegt den Kenningar aber darüber hinaus noch eine weitere mythologische Komponente zugrunde, die aus einer gemeinsamen Symbolik von Schiffen und Hirschen als Sonnentransportern resultiert (Seven 2009).

Ausg.: Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, ed. G. NECKEL, 1983; Edda Snorra Sturlusonar, ed. F. JÓNSSON, 1931.

Lit.: H. EGLI: Das Schlangensymbol, 1982; W. HEIZMANN, Hirsch. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd.14 1999, 588-612; O. HÖFLER: Siegfried, Arminius und die Symbolik, 1961; E. PLOSS: Siegfried – Sigurd, der Drachenkämpfer, 1966; demnächst: H. SEVEN: Wegweiser – Seelentier – Drachentöter. Die Hirschsymbolik in Edda und Saga Magisterarbeit an der Universität Göttingen 2009; U. SPRENGER: Fáfnismál. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 8, 1994; K. VON SEE: Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 4, 2004, u. Bd. 5, 2006.

Sólarljóð: Das ano. Sólarljóð. welches die christliche Sonnensymbolik und ihre Verbindung mit Christus zum Inhalt hat, kennt den „Sonnenhirsch“. Es benennt Christus als „sólar hjörtr“ und beschreibt das zum Himmel erhobene Hirschgeweih im direkten Zusammenhang mit einer christlichen Sonnensymbolik. Neben einer Geweih-Sonnensymbolik ist auch die Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Hirschgeweih an anderer Stelle im An. belegt (Sagaliteratur).

Ausg.: Sólarljóð – Tydning og tolkningsgrunnlag, ed. B. FIDJESTØL, 1979.

Lit.: W. HEIZMANN: Hirsch. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd.14, 1999, 588-612, demnächst: H. SEVEN: Wegweiser – Seelentier – Drachentöter. Die Hirschsymbolik in Edda und Saga. Magisterarbeit an der Universität Göttingen 2009.

Hauke Seven

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