Hirsch – E.1 – IV.2 Lyrische Texte

Eddische Dichtung: Innerhalb der E. findet sich der Hirsch unter anderem in der Kosmologie. So ist in den Grímnismál die Rede von einem bzw. vier Hirschen in der Krone des Weltenbaums Yggdrasill, die den Ästen des Baumes Schaden zufügen. Die Hirsche sind in ihrem Sitz in der Baumkrone der Totenwelt Niflheim und dem in ihr hausenden Drachen Niðhöggr gegenübergestellt. Sicherlich ist in dieser räumlichen Gegenüberstellung eine Darstellung von Hirsch-Schlangen-Antagonismus bzw. die Gegenüberstellung Sonnensymbol-eschatologisches Wesen zu sehen. Freyr, ein Gott mit Fruchtbarkeitsattributen, tötet laut der Gylfaginning einen eschatologischen Riesen mit einem Hirschgeweih. Wie in der christlichen Mythologie wird der Hirsch Eikthyrnir mit dem Entspringen von Gewässern und einer Symbolik von Lebensspende in Verbindung gebracht. Von seinem Geweih aus fließen vier Ströme, die den Ursprung aller Flüsse darstellen. Einer der vier Hirsche in der Krone Yggdrasills heisst Dválin. Die Bezeichnung der Sonne als „Dválins leica“ in den Alvissmál verdeutlicht den Sonnen-Hirschbezug noch.

Der Vergleich eines Menschen mit einem Hirsch wird an drei Stellen vorgenommen. Die Gudrunarkviða II vergleicht Sigurðr mit einem „hochbeinigen Hirsch“ und die Helgakviða Hundingsbana II zieht ein Hirschkalb zum Vergleich mit Helgi Hundingsbani heran. Im Fall Helgis liegt hier offensichtlich eine reine Attributierung mit den positiven Eigenschaften des Hirsches vor (s. Sagaliteratur), im Fall Sigurds greift die Hirschsymbolik in diesem Vergleich tiefer. So bezeichnet sich Sigurdr auch in den Fáfnismál selbst als „herrlicher Hirsch“. Viele Hinweise deuten auf eine Wesensverknüpfung Sigurds mit dem Hirsch (z.B. der Hindarfjall in den Fáfnismál auf dem Brynhild lebt. Vgl. Seven 2009), eine Symbolik die auch im Kampf gegen den Drachen Fáfnir eine Rolle zu spielen scheint (H- und Schlange als Antagonisten, vgl. Sagaliteratur; Höfler 1961, Seven 2009).

Der Hirsch spielt auch eine Rolle bei der Denomination von Schiffen durch Kenningar. So werden in den Skáldskaparmál Schiffe als Hirsche bezeichnet, die Helgaqviða Hundingsbana in fyrri benennt anlandende Schiffe als „Hirsche des Mastbaums“ und auch bei den „Brandungstieren“ der Skáldskaparmál könnte es sich um Hirsche handeln. Diese Symbolik kann wohl zum Teil aus der Geschwindigkeit und der Form (Hörnersteven wie Geweihe) der Schiffe erklärt werden (Meissner 1921, Turville-Petre 1976). Eventuell liegt den Kenningar aber darüber hinaus noch eine weitere mythologische Komponente zugrunde, die aus einer gemeinsamen Symbolik von Schiffen und Hirschen als Sonnentransportern resultiert (Seven 2009).

Ausg.: Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, ed. G. NECKEL, 1983; Edda Snorra Sturlusonar, ed. F. JÓNSSON, 1931.

Lit.: H. EGLI: Das Schlangensymbol, 1982; W. HEIZMANN, Hirsch. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd.14 1999, 588-612; O. HÖFLER: Siegfried, Arminius und die Symbolik, 1961; E. PLOSS: Siegfried – Sigurd, der Drachenkämpfer, 1966; demnächst: H. SEVEN: Wegweiser – Seelentier – Drachentöter. Die Hirschsymbolik in Edda und Saga Magisterarbeit an der Universität Göttingen 2009; U. SPRENGER: Fáfnismál. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 8, 1994; K. VON SEE: Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 4, 2004, u. Bd. 5, 2006.

Sólarljóð: Das ano. Sólarljóð. welches die christliche Sonnensymbolik und ihre Verbindung mit Christus zum Inhalt hat, kennt den „Sonnenhirsch“. Es benennt Christus als „sólar hjörtr“ und beschreibt das zum Himmel erhobene Hirschgeweih im direkten Zusammenhang mit einer christlichen Sonnensymbolik. Neben einer Geweih-Sonnensymbolik ist auch die Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Hirschgeweih an anderer Stelle im An. belegt (Sagaliteratur).

Ausg.: Sólarljóð – Tydning og tolkningsgrunnlag, ed. B. FIDJESTØL, 1979.

Lit.: W. HEIZMANN: Hirsch. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd.14, 1999, 588-612, demnächst: H. SEVEN: Wegweiser – Seelentier – Drachentöter. Die Hirschsymbolik in Edda und Saga. Magisterarbeit an der Universität Göttingen 2009.

Hauke Seven

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