Der selbstgefällige → Pfau rühmt sich wegen seiner Federnpracht und wirft dem Kranich dessen Schmucklosigkeit vor, der sich jedoch mit dem Hinweis auf seine Flugkünste zu wehren weiß (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 362). Im Wiener Fabelcorpus (Nr. 4) wird der Pfau mit dem Reichen gleichgesetzt, der sich jedoch nicht aus dem Schmutz seiner Bosheit aufzuschwingen vermag, während der Kranich für den Mittellosen, aber Tüchtigen steht, der allgemeines Ansehen genießt. Boner (Nr. 81) verbindet mit dieser Fabel die Mahnung, sich nicht wegen einer besonderen Begabung hoffärtig über andere zu erheben, denn die anderen könnten mit den offenkundigen Mangel mit anderen Vorzügen ausgleichen. Der Nürnberger Prosa-Äsop (Nr. 15) ergänzt diese Deutung um eine geistliche Auslegung und setzt den Pfau mit dem Hoffärtigen gleich und den Kranich mit dem Demütigen. Der Magdeburger Prosa-Äsop (Avian 12) folgert aus der Fabel, dass Schönheit an geistlicher Erkenntnis hindere. Steinhöwel (Nr. 126) verbindet damit die Mahnung, sich wegen seiner Schönheit nicht über andere zu erheben, die sich vielleicht durch andere Begabungen auszeichnen.
In der weit verbreiteten Fabel von der wechselseitigen Einladung zum Gastmahl von → Fuchs und → Storch (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 212) tauschen der Wolfenbütteler Äsop (Nr. 24) und der Magdeburger Äsop (Nr. 76) den Storch gegen den Kranich aus, ohne dass damit auch eine Veränderung der Moral (Verpflichtung zu gegenseitiger Rücksichtnahme) verbunden wäre.
Die Fabel vom → Wolf, der dem Kranich (oder → Storch) den für seine Hilfe versprochenen Lohn nicht zukommen läßt (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 631), wird weithin als Warnung vor dem Dienst für böse Menschen oder als Exempel der Undankbarkeit schlechthin verstanden. Der Nürnberger Prosa-Äsop (Nr. 47) ergänzt diese konventionelle Deutung um eine geistliche Auslegung und sieht im Wolf das Exempel des Reichen oder Mächtigen, der bei einer Erkrankung seinem Beichtvater Besserung und Buße gelobt, aber nach seiner Gesundung davon nichts mehr wissen will. Der Magdeburger Prosa-Äsop (I,8) wendet im Promythion die allgemein-moralische Auslegung dieser Fabel ins Sozialkritische, indem er sie auf die Herren bezieht, die ihren Untergebenen für deren Dienste keinen Dank erstatten, während in der geistlichen Deutung der sozialkritische Unterton des Nürnberger Prosa-Äsops ausgeblendet wird und der Wolf mit einem Kranken schlechthin gleichgesetzt wird.
Lit.: G. DICKE/K. GRUBMÜLLER: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987.
Dietmar Peil
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