Rabe – E.1 – IV.2 Lyrische Texte

Skaldik: Der Rabe als Odinstier ist in der skaldischen Dichtung allgegenwärtig, sowohl in eigenständiger Funktion als auch als Bestimmungswort, hier zumeist für Odin oder Kampfhandlungen im Allgemeinen. In Þjóðólfr hvínverski's Haustlöng (9. Jh.) wird Odin als Hrafnáss, als ›Raben-Ase‹ umschrieben, der Liðmannsflokkr nennt den Raben Hnikars gjóðr, ›Odins Adler‹. In zahlreichen weiteren Kenningar (der für die Skaldendichtung so typischen bildhaften Umschreibung) dient der Rabe zur Bezeichnung von Kriegern, Schlachten, Waffen und Gefallenen.

“Klassische” Kriegerkenningar greifen so auf Odins Raben zurück, umschrieben etwa als Yggjar mǫ ›Odins Vogel/Möwe‹, und bezeichnen einen Krieger beispielsweise als Yggjar mǫs fiðrirjóðr ›der die Fittiche des Raben rot macht‹, wie Arnorr Jarlaskáld in der Magnúsdrápa. In den Reginsmál 18 and Fafnismál 35 sind Krieger die, die ›den Hugin erfreuen‹, Hugin gladdi. Das Verb ›kämpfen‹ wird bei Hárvarðr Halti durch feita Yggjar mǫ ersetzt, also durch ›den Raben füttern‹, die Gefallenen auf dem Schlachtfeld werden zu Hugins barr, ›Hugins Ernte/Gerste‹, das Blut zum ›Wein des Raben‹, hrafna vín.

Rabenkenningar werden zumeist mithilfe anderer Vogelnamen als Grundwort gebildet, denen als Bestimmungswort Odins- oder Walkürennamen, Óðins haukr ›Odinsfalke‹, Skǫglar gagl ›Skǫgull's Gössel‹ oder Hlakkar svanr ›Hlǫkk's Schwan‹ hinzugefügt werden. Vereinzelt tritt auch der → Kranich als Bestandteil solcher Rabenkenningar auf: hjaldrs trani ›Kranich der Schlacht‹ und blóðtrani ›Blutkranich‹.

Häufig sind auch Waffen oder Begriffe wie Kampf oder Leiche als Bezugswort: hjaldrs svanur ›Schlachtenschwan‹, morðhaukr ›Mordfalke‹, valfugl ›Schlachtfeldvogel‹, hræva gaukr ›Aas-Kuckuck‹.

Ausg.: Den Norsk-Islandske skjaldedigtning, ed. F. Jónsson, 1912-1915.

Lit.: V. Höfig: Raben und Rabenvögel, in: Tiere in skandinavischer Literatur, 2007, 73-93; J. Lindow: Handbook of Norse Mythology, 2001, 187; R. Meissner (ed.): Die Kenningar der Skalden, 1921; R. Simek: Religion und Mythologie der Germanen, 2003; J. de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, 2.2 1957.

Verena Hoefig

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