Pferd – C. – II.3 Gebrauchsschrifttum

Medizin: Aufgrund der besonderen Bedeutung des Pferdes für den Menschen (→ A. Das reale Tier) nimmt die Pferdeheilkunde im mittelalterlichen veterinärmedizinischen Schrifttum den ersten Rang ein. Das mittelalterliche Wissen basiert auf der antiken und spätantiken Literatur. Hierzu zählen die im 3. bis 5. Jh. im griechisch-sprachigen Kulturraum verfassten Texte von Apsyrtos, Eumelos, Theomnestos, Hippokrates d. Hippiater, Hierokles u.a., welche spätestens im 9./10. Jh. in einem Sammelwerk zusammengefasst wurden, sowie die lateinischen Schriften des Pelagonius, die anonyme Mulomedicina Chironis (beide 4. Jh.) und die kurz darauf auf Grundlage beider Werke kompilierten Digesta artis mulomedicinalis des Laien Vegetius (spätes 4. oder 1. Hälfte 5. Jh.), für die spätere Überlieferung das wichtigstes Textzeugnis. Nach rund 800 Jahren ohne nennenswerte neue hippiatrische Literatur legt Jordanus Ruffus, Stallmeister in der Zeit des Stauferkaisers Friedrich II mit seinem zwischen 1250 und 1256 verfassten Traktat (Originaltitel nicht gesichert) erneut eine sehr umfassende Darstellung pferdeheilkundlichen Wissens vor, die gerade durch ihren engen Praxisbezug – Ruffus soll darin seine eigenen Erfahrungen niedergelegt haben – wegweisend für die nächsten Jahrhunderte gewesen ist. Mit ihrem Erscheinen beginnt in der Veterinärgeschichte (nicht ganz zutreffend) die sogenannte Stallmeisterzeit, welche erst mit der Gründung der ersten Tierarzneischule in Lyon im Jahre 1762 ihr Ende findet (von den Driesch/Peters). Sein Traktat enthält sowohl Angaben zu Pferdezucht (Auswahl der Elterntiere, Aufzucht und Ausbildung der Fohlen) und Pferdehaltung als auch 57 meist detaillierte Kapitel über Pferdekrankheiten und ihre Behandlung. Zeitlich vor Jordanus Ruffus (12. Jh.?) entstand ein wesentlich kürzeres anonymes Werk, das K. Lindner 1962 identifizierte, die (geringfügig überarbeitete) Quelle für den Abschnitt De equis in Albertus Magnus' (1193-1280; Wiemes) De animalibus, inzwischen als Albertus-Vorlage bezeichnet. Nach Jordanus Ruffus nimmt die pferdemedizinische Schriftstellerei, zunächst in Italien, einen großen Aufschwung. So wurden (vor 1266) die Kapitel des Hierokles aus der griechischen Sammlung der Pferdeheilkunde durch Bartholomäus von Messina im Auftrag König Manfreds von Hohenstaufen ins Lateinische übersetzt, versehen mit den Titeln De curatione equorum oder Liber Hieroclis ad Bassum (Fischer 1983). Ein weiterer, bisher nur aus einer einzigen lateinischen Handschrift bekannter Liber mariscaltie wurde wahrscheinlich ebenfalls im 13. Jh. von einem am Beginn namentlich genannten Magister Maurus geschrieben (Hurler). Hierin werden ausschließlich Pferdekrankheiten und ihre Behandlung beschrieben, für hippologische Themen verweist Maurus auf das Werk des Jordanus Ruffus. Zwei kürzere Texte wurden um 1277 durch Moses von Palermo aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt: das (pseudonyme) Werk des Ipocras (Hippocras = Hippocrates) Indicus und ein anonymer Liber mariscaltie equorum et cure eorum. Vermutlich für die Zeit um 1260 bis 1270 ist weiter die Mulomedicina oder Practica equorum des Bischofs Theodoricus Cerviensis (1205-1298) zu nennen. 1205 in Lucca geboren lernte er das humanmedizinische Wissen seines Vaters, des kriegserfahrenen Wundarztes Ugo dei Borgognoni, und war sein Leben lang trotz des Einschlagens einer klerikalen Laufbahn bis hin zur Bischofswürde als Arzt in vornehmen Kreisen tätig. Neben seinem humanmedizinischen Werk Cyrurgia seu filia principis kompilierte er nach 1277 die bereits genannte Pferdeheilkunde, in welche neben Vegetius zeitgenössische Quellen (hauptsächlich Jordanus Ruffus, Albertus-Vorlage, Maurus, Ipocras Indicus) eingeflossen sind. Um die Wende zum 14. Jh. widmet sich Petrus de Crescentiis (1230/1233-1320/21) der Abfassung eines landwirtschaftlichen Werkes, Ruralia commoda, wo die hippiatrischen Kapitel ebenfalls auf Jordanus Ruffus basieren. Als weiterer Autor ist der von 1320 bis 1347 in Rom praktizierende Stallmeister Laurentius Rusius zu erwähnen, dessen Marescalcia wiederum vor allem aus dem Werk des Jordanus Ruffus schöpft. In die 1. Hälfte des 14. Jh. wird eine lateinische Handschrift des „Pseudo-Lanfranc“ datiert. Als ihren Verfasser hielt man ursprünglich den bekannten Chirurgen Lanfrancus Mediolanensis (um 1245 – vor 1306). Eine kurze Sammlung von Anweisungen, die einem angeblich unter Friedrich II. am Neapolitaner Hof tätigen Meister Albrant zugeschrieben wird, verbreitet sich im 14. und 15. Jh. in Mittel- und Osteuropa sowohl in deutschen Fassungen wie in volkssprachigen und einer lateinischen Übersetzung.

Aufbau und Inhalte der hippiatrischen Abschnitte: Viele heute bekannte Krankheiten werden bereits in den ma. Quellen erwähnt. Während die Entstehung einer Krankheit im Anschluss an antike Vorstellungen durch die Humoralpathologie (TRE) erklärt wird, finden bei der Therapie vor allem empirische Erfahrungen Eingang. Krankheiten werden besonders anhand von Beobachtungen, wie etwa der sensorisch wahrgenommenen Qualitäten von Blut, Urin oder Kot, sichtbarer Veränderungen der Haut oder von Beeinträchtigungen der Bewegung beschrieben. Die Autoren folgen beim Aufbau weitgehend dem seit der Antike üblichen Schema „a capite ad calcem“. Das Spektrum der damals bekannten Erkrankungen ist groß: Eine besondere Relevanz nehmen insbesondere chirurgische Krankheitsbilder ein wie die Hufrehe und andere Erkrankungen des Bewegungsapparates (Spat, Gallen, Hasen- und Piephacke), des Weiteren auch einige Hautaffektionen. Unter den organbezogenen Erkrankungen sind vor allem verschiedene Ausprägungen der Kolik zu nennen, während der Rotz, der heute als Infektionskrankheit gilt, bereits seit der Antike zu den wichtigsten beschriebenen Krankheitsbildern zählt. Das Behandlungsspektrum umfasst invasive und konservative Maßnahmen. Zu ersteren zählen der Aderlass, etwa an der Vena jugularis, das Brennen mit glühenden Eisen, das Haarseil-Legen unter die Haut und die Skarifikation (Ritzen von Haut oder Schleimhaut bis zum Blutaustritt). Ziel ist meist, die für die Krankheit verantwortlich gemachten „schlechten Körpersäfte“ zu entfernen. Auch chirurgische Eingriffe, wie das Herausschneiden erkrankter Stellen oder die häufig durchgeführten Hengstkastrationen, sind gängige Praxis. Waren derartige schmerzhafte Eingriffe grundsätzlich ohne Betäubung durchgeführt worden, wird in der Pferdeheilkunde des Theodoricus Cerviensis ein Rezept zur Beruhigung auf der Basis von Bilsenkraut beschrieben. Ebenso wichtig sind die zahlreichen konservativen Therapien, welche das Verabreichen oder Vorenthalten bestimmter Futtermittel und thermische Maßnahmen, z. B. Kühlung der Gliedmaßen mit kaltem oder Erhitzen der Haut mit heißem Wasser, sowie das Auftragen etwa von Salben und Breien als Umschläge oder Pflaster umfassen. Verwendet wird eine große Spannbreite an pflanzlichen (z.B. Wermut, Holunder), tierischen (z.B. Blut, Fette, Exkremente) und mineralischen Materialien (z.B. Quecksilber, Alaun, Schwefel). Zerkleinerte Materialien werden mit Wasser, Ölen oder diversen Fetten vermischt und oft gekocht und dienen je nach Rezeptur für die innerliche oder äußerliche Behandlung. Wichtige Instrumente sind Brenneisen, Messer und Lanzetten, für die Bearbeitung der Hufe auch Wirkmesser. Als Verbandsmaterial dienen vor allem Hanf oder Leinen. Eine Prognose wird nur selten genannt.

Ausg.: Anon.: Liber mariscaltiae equorum et cure eorum, ed. P. Delprato, 1865. [Hippocras Indicus]; Ipocras Indicus: Liber Ipocratis de infirmitatibus equorum et curibus eorum, ed. P. Delprato, 1865; Laurentius Rusius: Liber marescalciae, ed. P. Delprato, 1867. (mit italienischer Übersetzung); Theodoricus Cerviensis: Mulomedicina, ed. E. Dolz /G. Klütz /W. Heinemeyer, 1936/37 (mit deutscher Übersetzung); Meister Albrant: Meister Albrants Roßarzneibuch im deutschen Osten, ed. G. Eis, in: Schriften der Deutschen Wissenschaftlichen Gesellschaft in Reichenberg – Documenta Hippologica, 9, 1977 (Nachdruck); Hierokles: Hippiatrica ad Bassim, ed. M. Günster, 1974. (Edition einer lateinischen Übersetzung durch Magister Bartholomäus de Messina); Magister Maurus: Liber mariscaltiae, ed. M. Hurler, 2007 (mit deutscher Übersetzung); Jordanus Ruffus: Hippiatria [= De medicina equorum], ed. H. Molin, 1818; Petrus de Crescentiis: Ruralia commoda, ed. W. Richter, 1995; B. K. Vollmann: Petrus de Crescentiis - Erfolgreiche Landwirtschaft – Ein mittelalterliches Lehrbuch, 1-2, 2007/2008 [dt. Übersetzung]; Ubertus de Curtenova: Liber de egritudinibus equorum et eorum curis, ed. E. Rosenthal, 1969; Albertus Magnus: De animalibus 26, ed. H. Stadler, 1920, Bd. 2, 1377-1399; R. Froehner, Die Pferdekrankheiten bei Albertus Magnus, in: Dansk Veterinaerhistorisk Samfunds Aarbog, 4, 1937, 75-129 (deutsche Übersetzung); A. C. Svinhufvud: A late Middle English Treatise on horses, 1978; Pseudo-Lanfranc: practica avium et equorum, ed. A. Werk , 1909.

Lit.: L. B. Cianti / L. Cianti: La pratica della veterinaria nei codici medievali di Mascalcia, 1993; K.-D. Fischer: Zur Erstveröffentlichung einer spätmittelenglischen Pferdeheilkunde nebst Beobachtungen zu ihrer lateinischen, von Albertus Magnus benutzten Vorlage, in: Würzburger medizinhistorische Forschungen 24, 1982, 221–238; Ders.: Moses of Palermo, Translator from the Arabic at the Court of Charles of Anjou, in: Histoire des sciences médicales 17,1, 1983, 278-281; D. Goltz: Säfte, Säftelehre, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 8, Basel 1992, Sp. 1119-1126; H. Gossen: Hippiatrika, Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft VIII,2 1946, 1713-1715; K. Hoppe: Mulomedicina, Paulys Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft XVI,1, 503-513; M. Hurler: Liber Mariscaltiae des Magister Maurus, 2007, 133-134; G. Keil: Liber de cura equorum, VL 5 (1985), 752-756; Ders.: Meister Albrant, VL 1 (1977), 157-158; Ders.: Ruffus Jordanus, VL 8 (1991), 377-378; K. Lindner: Deutsche Albertus-Magnus-Übersetzungen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, 1962; A. Montinaro: La tradizione del »De medicina equorum« di Giordano Ruffo, 2015, 15; E. Rosenthal: Die Pferdeheilkunde des Ubertus de Curtenova, 1969, 7; J. Schäfer/K.-D. Fischer: Tiermedizin, Lexikon des Mittelalters 8 (2002), 774-780; L. Schnier: Die Pferdeheilkunde des Laurentius Rusius, 1937; G. Sponer: Die Pferdeheilkunde des Ipocras indicus, 1966. (enthält auch die lat. Übers. der Epitome der Hippiatrika); R. Toellner: Heilkunde/Medizin II. Historisch, Theologische Realenzyklopädie (= TRE) 14 (1985), 746-748; D. Trolli: Studi su antichi trattati di veterinaria, 1990; A. von den Driesch /J. Peters: Geschichte der Tiermedizin: 5000 Jahre Tierheilkunde, 2003, 43-54 und 85-129; W. Wiemes: Die Pferdeheilkunde des Albert von Bollstädt [= Albertus Magnus], 1938, 3-5.

Martina Schwarzenberger