KRANICH – Nordische Literatur

Kranich – E.1 – IV.1 Narrative Texte

Sögur: Das Femininum trana (›Kranich‹) und das Maskulinum trani (›Kranich‹) treten fast ausschließlich als Anthroponym, Chrematonym oder Bestandteil von Toponymen und metaphorischen Umschreibungen auf. Nur ausnahmsweise werden sie als Appellativa verwendet, wobei zumeist außerskandinavische Vorlagen eine Rolle spielen. In der Droplaugarsona saga, der Fljótsdoela saga und der Þórsteins saga Víkingssonar erscheint der Vogelname als Epitheton (Þorkell trani bzw. Ingialdr trana). Ob dabei die erstaunliche Mobilität des Zugvogels, sein lauter trompetender Ruf oder die ihm seit der Antike zugeschriebene Wachsamkeit mit den Eigenschaften des Namensträgers assoziiert wurde, lässt sich anhand der altnordischen Überlieferung nicht erschließen. Da Ingialdr trana im Kampf die Gestalt eines → Ebers annehmen kann, ist in diesem Fall auch eine Verbindung zu neuisländisch trani = ›Rüssel‹ und einem altisländischen Femininum *trana = ›Eberschnauze‹ erwogen worden. Unter anderem in der Ólafs saga Tryggvasonar in Snorris Heimskringla ist vom königlichen Kriegsschiff die Rede, das den Namen des Zugvogels trägt (Tranann = ›der Kranich‹). Möglicherweise war das Schiff mit einem ornithomorphen Stevenschmuck ausgestattet. In der Version A der Konráðs saga keisarasonar, einer originalen Riddarasaga, ist ein Schwert mit dem Namen Trani zu finden. Das in der Örvar-Odds saga erwähnte Toponym Trönuvágar (›Kranichbuchten‹) scheint einen regelmäßig von Kranichen aufgesuchten Platz zu bezeichnen.

In der Óláfs saga helga (AM 61 fol.) erscheint der Kranich in einem jagdlichen Kontext. In der Fagrskinna und der Karlamagnús saga ok kappa hans findet der Kranich als Beute bei der Beizjagd mit → Hund und → Habicht Erwähnung. In der Ívens saga Artúskappa, einer Prosaübersetzung des altfranzösischen Versromans Yvain des Chretien de Troyes, heißt es, der Held verfolge seinen Feind so schnell wie ein → Falke den Kranich. Insbesondere seiner Größe sowie seiner jagdlichen Relevanz und der damit einhergehenden Exklusivität dürfte es geschuldet sein, wenn beispielsweise in der Karlamagnús saga neben allerlei Wildpret auch der wenig schmackhafte Kranich als besonders festliche Speise serviert wird. Dies hat Entsprechungen in der kontinentalen und englischen höfischen Esskultur.

Ausg.: Heimskringla. Snorri Sturluson, Bd. 1-3, ed. B. AÐALBJARNARSON, 1941-1951; Ivens saga, ed. F. W. BLAISDALL, 1979; Fornsögur Suðrlanda, ed. G. CEDERSCHIÖLD, 1884; Fagrskinna. Nóregs kononga tal, ed. F. JÓNSSON, 1902-1903; Fornaldarsögur Norðurlanda 1-4, ed. G. JÓNSSON, 41950; Saga Óláfs konungs hins helga, ed. O. A. JOHNSEN/ J. HELGASON, 1941; Austfirðinga sögur, ed. J. JAKOBSEN, 1902-1903; Fljótsdoela hin meiri, eller, Den længere Droplaugarsona-saga, ed. K. KÅLUND, 1883; Karlamagnús saga ok kappa hans. Fortællinger om Keiser Karl Magnus og hans Jævninger i norsk bearbeidelse fra trettende aarhundrede, ed. C. R. UNGER, 1860.

Lit.: G. MÜLLER: Studien zu den theriophoren Personennamen der Germanen, 1970.

Þættir: Der um 1500 überlieferte Trönuþáttr berichtet von einem lombardischen Bauern, der von seiner Geliebten mittels eines Halsbandes in einen Kranich verwandelt wird. Bei den Kranichen lebend, gerät er bald in Schwierigkeiten, da er nicht in der Lage ist – nach Art der Kraniche mit einem Stein in der Hand im Wasser stehend – Wache zu halten. Der Autor schildert ausführlich die Lebensweise der Kraniche und merkt an, dass sie im Norden nicht anzutreffen seien.

Ausg.: Islendzk Æventyri. Isländische Legenden, Novellen und Märchen 1-2, ed. H. GERING, 1882-1883.

Strengleikar: Auch in den als Strengleikar bekannten altnordischen Prosaübersetzungen altfranzösischer Lais taucht der Kranich als Jagdbeute auf. Im Strandar strengleikr vertreibt sich Wilhelm der Eroberer in Barfleur – auf bessere Windverhältnisse für die Überfahrt nach England wartend – die Zeit mit der Beizjagd und erbeutet mit seinen → Habichten zahlreiche Kraniche. Die altfranzösische Vorlage des Textes ist nicht erhalten.

Ausg.: Strengleikar. An Old Norse Translation of Twenty-one Old French Lais, ed. R. COOK/ M. TVEITANE, 1979.

Lieder-Edda: In den Eddaliedern des Codex regius taucht der Kranich nur zweimal auf: In den Hamðismál wird scheinbar der am Galgen Gehängte als ›Aufreizung/Anreizung/Reiz des Kranichs‹ umschrieben (trýtti æ tröno hvöt, Strophe 17). Diese Kenning ist ganz enigmatisch. Sie könnte jedoch mit der Verwendung von trani in Rabenkenningar zusammenhängen und somit auf den aasfressenden → Raben abzielen, der von den Leichnamen auf Exekutionsstätten angezogen wird. In Helgaqviða Hundingsbana in fyrri ist von einem Ort namens Trönoeyrr (›Kranichufer‹) die Rede (Strophe 24).

In der Rígsþula, die nicht im Codex regius überliefert ist, werden diffamierende Sklavennamen aufgezählt, darunter auch Trönobeina (›die Kranichbeinige‹ Strophe 13). Dieser Name dürfte auf eine außergewöhnliche Gestalt oder Stellung der Beine anspielen.

Ausg.: Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, I: Text, ed. G. NECKEL/H. KUHN, 51983.

Sigmund Oehrl

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Kranich – E.1 – IV.2 Lyrische Texte

Skaldik: In der Skaldendichtung tritt der Kranich vereinzelt als Bestandteil von → Rabenkenningar in Erscheinung. Bei den mit Abstand meisten Rabenkenningar dient der Name eines beliebigen Vogels als Grundwort, das durch verschiedene Ausdrücke aus dem Bereich des Krieges und des Todes bestimmt wird. Mit trani als Grundwort sind die  Rabenkenningar ›Kranich des Kampfgetümmels‹ (hjaldrs trani) und ›Blutkranich‹ (blóðtrani) überliefert. In Hjalmars Sterbelied begegnet Trani als Männername.

Ausg.: Den Norsk-Islandske skjaldedigtning, ed. F. JÓNSSON, 1912-1915.

Lit.: R.MEISSNER (ed.): Die Kenningar der Skalden, 1921.

Þulur: Die in den Handschriften der Snorra-Edda überlieferten Þulur führen Trani als Schwertname und als → Schlangenname bzw. als poetisches Synonym für ›Schwert‹ (Sverða heiti) und ›Schlange‹ (Orma heiti) auf. Wie sich der Waffenname erklärt, bleibt rätselhaft, könnte jedoch mit der Hals- oder Schnabelform bzw. dem gesamten Flugbild des Vogels zusammenhängen. Da in der altnordischen Literatur geheimnisvoll tönende Schwerter greifbar sind, ist auch der charakteristische Schrei des Kranichs in Betracht gezogen worden.

Ausg.: Den Norsk-Islandske skjaldedigtning, ed. F. JÓNSSON, 1912-1915.

Lit.: H. FALK: Altnordische Waffenkunde, 1914; F. GRÜNZWEIG: Das Schwert bei den Germanen, 2009.

Rímur: In den Úlfhams rímur (auch Vargstökkur) wird eine eigentümliche Beziehung zwischen jungen Männern und Kranichen angedeutet (IV, Strophe 21-23; V, Strophe 34 ff.). Eine ausführlichere Schilderung dieser Beziehung ist in der nachmittelalterlichen Úlfhams saga anzutreffen. Es handelt sich um eine Form der Mahrtenehe. Die Kranichfrauen verwandeln sich mit Hilfe einer Art Vogelhülle (hamr) und entsprechen somit dem Motiv der Schwanenjungfrau.

Ausg./ Lit.: Úlfhams Saga, ed. A. GUÐMUNDSDÓTTIR, 2001.

Sigmund Oehrl

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Kranich – E.1 – IV.3 Diskursive Texte

In einer schwedischen Fassung des Pentateuch aus dem 14. Jahrhundert (überliefert in zwei Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts), erläutert der Übersetzer (zu Liber Genesis, Kap. 1-2), dass die Tiere ihrer von Gott verliehenen Natur folgen, indem er den Zug der Kraniche vor Augen führt.

Ausg.: Svenska medeltidens bibel-arbeten efter gamla handskrifter 1-2, ed. G. E. KLEMMING, 1848; Fem moseböcker på fornsvenska enligt Cod. Holm A1, ed. O. THORELL, 1959.

Sigmund Oehrl

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Kranich – E.1 – V. Runen

Auf dem spätwikingerzeitlichen Runenstein von Gillberga (Össeby-Garns socken, Vallentuna härad) in Uppland werden zwei Männer genannt, die das Denkmal für ihren verstorbenen Vater errichteten (U 186). Einer der Söhne heißt Trani. Am Ende der sehr schlecht bewahrten Inschrift auf dem ebenfalls spätwikingerzeitlichen uppländischen Runenstein von Tierps kyrka (Tierps socken, Örbyhus härad) könnte sich der Runenritzer Þórir mit dem Epitheton trani nennen (U 1143). Die Lesung der betreffenden Partie bereitet jedoch einige Schwierigkeiten.

Lit.: M. KÄLLSTRÖM: Mästare och minnesmärken, 2007.

Sigmund Oehrl

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