Maus

Maus – B.1 Antike Zoologie

Neben den im europäischen (Mittelmeer-)Raum verbreiteten Arten Hausmaus (Mus musculus), Feldmaus (Microtus arvalis) und Waldmaus (Apodemus sylvaticus) (HA 580b, 15f., NH 8, 221, 30, 70 u. 119, NA 9, 41 u. 17, 41; s. LEITNER 1972, S. 174) werden von Aristoteles, Plinius und Aelian auch Mäusearten erwähnt, wie sie im heutigen arabischen Raum verbreitet sind (HA 581a, 1ff. u. 606b, 6ff., NH 8, 221, NA 15, 26). Aufgrund der Beschreibungen ist davon auszugehen, dass die (Wüsten-)Springmaus (Familie Dipodidae) und die Ägyptische Stachelmaus (Acomys cahirinus) bzw. Sinai-Stachelmaus (Acomys dimidiatus) gemeint sein dürften (vgl. SCHNIEDERS, S. 646).

Die Mäusen ähnelnden Spitzmäuse (Mus araneus/sorex) werden unter die Mäuse gezählt (NH 8, 223, NA 2, 37), ebenso die nach heutiger Auffassung zu den Bilchen gehörende Haselmaus (Glis) (NH 8, 224). Rätsel gibt die von Aristoteles und Plinius erwähnte, im Schwarzmeergebiet beheimatete, ‚weiße (bzw. helle) Pontische Maus‘ (HA 600b, 14 u. 632b, 10, NH 8, 132) auf, die anhand der angeführten Merkmale (Fellfarbe, Winterschlaf, ‚Wiederkäuer‘) nicht sicher identifiziert werden kann; möglicherweise ist ein Albino des Wiesels oder das Murmeltier gemeint (vgl. SCHNIEDERS, S. 572). Mit der an Land ihre Eier ablegenden mus marinus ist bei Plinius mit Sicherheit eine Meeresschildkröte gemeint (NH 9, 71 u. 166, analog zur Schildkröte HA 558a, 8ff., vgl. Leitner, S. 175). Hinter der von Aelian beschriebenen ‚Seemaus‘ (NA 9, 41) vermutet SCHOLFIELD (II, S. 261, Anm. d) ebenfalls eine → Schildkröte; zu erwägen wäre allerdings, ob in diesem Fall die Wasserspitzmaus gemeint ist: Diese Spitzmausart jagt, so der heutige Forschungsstand, in Gewässern und an Ufern, kann tauchen und hat ein eingefettetes Fell und für die Navigation im Wasser nützliche Borsten an Schwanz und Füßen (vgl. LEUTERT, S. 15). KELLER verweist hinsichtlich der Bekanntheit dieser Spitzmausart auf die Abbildung auf einer griechischen Münze (vgl. KELLER, S. 15, ohne Hinweis zur Datierung).

Im Griechischen und Lateinischen fehlt eine terminologische Unterscheidung zwischen Maus und → Ratte; die Existenz von Ratten im antiken Mittelmeerraum ist allerdings über Knochenfunde nachweisbar (vgl. THÜRY). Möglicherweise beziehen sich einzelne Aussagen also auch auf Ratten.

Mäuse werden als Beutetiere von Steinkäuzen und Waldohreulen (HA 619b, 22), Wieseln und → Schlangen (HA 612b, 3f., NH 8, 98), Mardern (NA 9, 41, HA 580b, 26) und → Füchsen (HA 580b, 25f.) erwähnt. Die langlebige Ansicht, dass → Elefanten den Geruch von Mäusen und von Mäusen angerührtes Essen scheuen (NH 8, 29, Coll. 25, 9), wurde erst 1942 von Bernhard Grzimek ins Reich der Legenden verwiesen.

Neben speziellen anatomischen Details – z. B. die angebliche Größenveränderung der Leber mit den Mondphasen (NH 11, 196, NA 2, 56) und das im Vergleich zum Körper sehr große Herz (NH 11, 183) – finden sich Angaben zur Lebensweise, wobei die große Fruchtbarkeit, d. h. die hohe Zahl an Nachwuchs bei einem Wurf, bedeutsam erscheint (HA 580b, 37, GA 771a, 24f., NA 9, 3). Die von Aelian beschriebene Technik, mittels derer sich Mäuse durch Zusammenarbeit aus Kühlgefäßen befreien können (NA 5, 22), hat Ähnlichkeit mit der von Spitzmäusen und ihren Jungen praktizierten Karawanenbildung, bei der jedes Tier sich mit den Zähnen an der Schwanzwurzel des vorangehenden festhält (vgl. ZIPPELIUS). Diese Vermutung bedürfte aber noch einer Überprüfung.

Die Maus wird als furchtsam, schwach und schreckhaft bei Geräuschen charakterisiert (NA 9, 41), aber auch ihr hohes Schädigungspotential wird hervorgehoben (NH 8, 104). (Feld-)Mäuseplagen werden mit phasenweise auftretender plötzlicher massenweiser Vermehrung (HA 580b, 37) und mit Mäuse produzierendem Regen bzw. Hagel (Phänomen des Tierregens) und der Spontanzeugung aus unbelebter Materie in Verbindung gebracht (NA 2, 56, NA 6, 41). Der Kult um Apollon-Smintheus (zu sminthos σμίνθος 'Maus') wird ebenso wie die Vertreibung der Bevölkerung von der Kykladeninsel Gyaros auf eine Feldmäuseplage zurückgeführt. Die außergewöhnliche Nagefähigkeit (Beispielfälle für das Annagen von Eisen, Silber und Gold) wird aus menschlicher Sicht als schädigend wahrgenommen, aber mitunter auch als Vorzeichen interpretiert (siehe hierzu die von Aelian überlieferten historischen Exempel NA 12, 5).

Allgemein gelten das Haus verlassende Mäuse als Warnzeichen, dass das Haus zusammenzustürzen droht (NA 11, 19), ihr Quieken als Anzeichen für heftigen Sturm (NA 7,8). Die Rolle der Mäuse (Hausmäuse) als Kulturfolger wird u. a. in Plinius’ Bezeichnung der Mäuse als ‚Bewohner der Häuser‘ („incolas domuum“, NH 8, 221) hervorgehoben.

Die antike Medizin kennt Heilmittel gegen die angeblich giftigen Spitzmausbisse (NH 29, 88f.) sowie unterschiedlichste aus Mäusen gewonnene Arzneien (vgl. MAY, S. 596). Plinius nennt u. a. die Heilwirkungen der Asche von Mäusen oder Mausteilen (gegen den Biss tollwütiger → Hunde, NH 29, 101, gegen kahle Stellen, NH 29, 107, als Augenarznei, NH 29, 118) und von verbranntem Mäusekot als Mittel der Heilung von Zahnkrankheiten (NH 30, 22). Außerdem berichtet Plinius davon, dass manche Leute empfehlen, zweimal im Monat Mäuse zu essen, um sich vor Zahnschmerzen zu schützen (NH 30,23).

Ausg.: Aelian: Of the Characteristics of Animals (= De natura animalium), 3 vols., ed. A. F. SCHOLFIELD, 1971; Aristoteles: Generation of Animals (= De generatione animalium), ed. A. L. PECK, 1968; Aristoteles: Historia animalium, 3 vols., ed. A. L. PECK/D. M. BALME, 1965-1991; Aristoteles: Historia animalium. Buch VIII u. IX, ed. S. SCHNIEDERS, 2019; Plinius: Naturkunde (= Naturalis historiae), ed./übers. R. KÖNIG/G. WINKLER, 1973-2007, hier Bücher VIII u. IX; Solinus: Collectanea rerum mirabilium, ed. T. MOMMSEN, 1895 (übers. K. BRODERSEN, 2014).

Lit.: CHR. HORNUNG: Maus, RAC, Bd. 24 (2012), Sp. 472-484; CHR. HÜNEMÖRDER: Maus, Der Neue Pauly, Bd. 7 (1999), Sp. 1054-1059; N O. KELLER: Antike Tierwelt I, 1909; H. LEITNER: Zoologische Terminologie beim Älteren Plinius, 1972; A. LEUTERT: Von Mäusen, Spitzmäusen und Maulwürfen, Neujahrsbl. d. Naturforschenden Ges. Schaffhausen 33 (1981), S. 1-30; R. MAY: Maus, Antike Medizin. Ein Lexikon, ed. K. H. Leven, 2005, Sp. 595f.; I. ROSCHKAMP-STELTENKAMP: Maus, EM 9 (1999), Sp. 428-432; R. U. SCHNEIDER: Die Angst des Elefanten vor der Maus, NZZ, 01.12.2009; A. STEIER: Maus, RE, Bd. 14 (1930), Sp. 2396-2408; G. E. THÜRY: Ratte, Der Neue Pauly, Bd. 10 (2001), Sp. 785f.; H.-M. ZIPPELIUS: Die Karawanenbildung bei Feld- und Hausspitzmaus, Zs. f. Tierpsychologie 30,3 (1972), S. 305-320.

Simone Loleit

 

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Maus – E.4 – III.1 Fabel

Die Maus tritt in der deutschsprachigen Literatur des MAs und des 16. Jh.s überwiegend in Fabeln auf, die in der äsopischen sowie, seltener, der Pañcatantra-Tradition stehen. Daneben gibt es im Rahmen der Cyrillus-Fabeln, der Predigt- und Exempelliteratur sowie autorenspezifisch (besonders Waldis) auch einige Neuansätze.

Wie etwa an der Fabel von der Stadt- und der Landmaus (Dicke/Grubmüller, Nr. 541) ersichtlich, werden der Maus z. T. gegensätzliche Attribute wie einerseits Verwöhntheit, Gefräßigkeit, Neugier, Risikobewusstsein, Nähe zum Menschen, andererseits Frugalität, Bescheidenheit, Sicherheitsdenken, Ängstlichkeit zugewiesen.

Als zentrales Motiv erscheint ihre Kleinheit und (vermeintliche) Unbedeutendheit: Die in deutschsprachigen Fabel- und Schwanksammlungen breit rezipierte Romulus-Fabel vom Berg, der unter lautem Getöse [e]in kleine lecherliche Mauß (Waldis: Esopus, I,21, V. 18) gebiert, warnt davor, große Erwartungen zu wecken, ohne sie erfüllen zu können. Hartmann von Aue baut die Fabel leicht variiert in die Joie de la curt-Episode des Erec (V. 9051-9058) ein. Von der nicht zu verachtenden Nützlichkeit des scheinbar Geringen handelt die breit rezipierte Romulus-Fabel vom → Löwen und der Maus (Dicke/Grubmüller, Nr. 391). Die plotverwandte Cyrillus-Fabel von → Löwe, → Fuchs und Maus verlagert den inneren Konflikt des Löwen auf zwei gegensätzlich handelnde Figuren: Der Löwe behandelt die Maus mit Respekt, der Fuchs verhöhnt sie. Als beide in der Falle sitzen, rettet die Maus nur den Löwen und belehrt den Fuchs ausführlich über die Wirkmächtigkeit vil kleiner ding (Sebastian Münster: Spiegel der wyßheit, I,18, S. 59).

Ihre Nagefähigkeit setzt die Maus auch in anderen Fabeln – aus Hilfsbereitschaft, Großmut oder Dankbarkeit – zum Nutzen anderer Tiere ein, die sie aus netzartigen Fallen befreit (Dicke/Grubmüller, Nr. 202, 340, 424, 426, 556). In einigen Fabeln spielt die zerstörerische Kraft des Nagens eine Rolle: Mäuse zernagen in der ätiologischen Fabel über den Streit zwischen → Hunden, → Katzen und Mäusen (16. Jh.; Dicke/Grubmüller, Nr. 317) einen Freibrief, den die Katzen für die Hunde aufbewahren sollten, und machen sich jene damit zu dotfeinden (Hans Sachs, Nr. 374, V. 44, Goetze/Drescher, Bd. 4). In der Pañcatantra-Fabel (Pforr: BdB, cap. 5) von der Mausjungfrau sowie der u. a. von Marie de France und dem Stricker bearbeiteten Romulus-Fabel von der Maus bzw. dem Kater als Freier (Dicke/Grubmüller, Nr. 334) spielt die Fähigkeit, einen Berg, Steinturm bzw. -mauer durch Nagen zum Einsturz bringen zu können, eine Rolle.

Als beliebtes Sujet erscheint die Interaktion der Maus mit ihr physisch überlegenen Fressfeinden wie → Katze, Wiesel, → Fuchs und Greifvögeln (Dicke/Grubmüller, Nrr. 132, 167, 202, 213, 342, 343, 426, 427); einige Fabeln inszenieren diesen Konflikt mit noch unerfahrenen jungen Mäusen (Dicke/Grubmüller, Nrr. 338, 418, 423, 590). In der breit rezipierten und episch im ‚Frosch-Mäuse-Krieg‘ weiter entfalteten Romulus-Fabel ‚Frosch und Maus‘ (Dicke/Grubmüller, Nr. 167) trifft die Maus auf den zunächst hilfsbereit wirkenden, tatsächlich aber hinterhältigen → Frosch; als Profiteur der Situation tritt ein Weih auf den Plan, der beide frisst. In Waldisʼ (I,3) auf Dorpius zurückgehender Variante erhält die Maus eine ebenbürtige Rolle, indem sie mit dem Frosch einen Krieg wegen der Hoheitsrechte an einem kleinen Teich führt; Waldis bezieht dies in der moralisatio auf städtische Unruhen.

Die gegen Mäuse eingesetzten Fallen und tierischen Jäger (Dicke/Grubmüller, Nrr. 342, 427, 541) spiegeln die menschliche Perspektive auf die Maus als Nahrungsschädling.

Ausg.: Sebastian Münster: Spiegel der wyßheit, ed. R. Günthart, 1996; Burkhard Waldis: Esopus, ed. L. Lieb, J. Mohr u. H. Vögel, 2011. [Alle anderen Ausgaben sind in Dicke/Grubmüller verzeichnet].

Lit.: G. Dicke/K. Grubmüller: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987.

Simone Loleit

MAUS – Deutsche Literatur

 

I. Terminologisches

 

II. Tierallegorese und Tierkunde

1. Physiologus, Bestiarien
2. Tierkunde
3. Gebrauchsschrifttum

 

III. Tierdichtung

1. Fabel
2. Tierepos

 

IV. Literatur

1. Narrative Texte
2. Lyrische Texte
3. Diskursive Texte
(4. Dramatische Texte)

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Maus

Maus / mouse / souris

Artikel als pdf-Datei

A. Das reale Tier

B. Denktraditionen

B.1 – Antike Zoologie
B.2 – Bibel und Bibelexegese

C. Lateinische Literatur

D. Romanische Literaturen

D.1 – Französische und okzitanische Literatur
D.2 – Italienische Literatur
D.3 – Spanische und katalanische Literatur
D.4 – Portugiesische Literatur

E. Germanische (und keltische) Literaturen

E.1 – Nordische Literatur
E.2 – Englische Literatur
E.3 – Niederländische Literatur
E.4 – Deutsche Literatur

 

Andere Lexikonartikel:

Der Kleine Pauly 3, 1098-2000; Reallexikon für Antike und Christentum 24, 472-484; Enzyklopädie des Märchens 9, 428-33; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 6, 31-60 [wird ggf. ergänzt].

Link zur animaliter-Bibliographie-Datenbank: Maus

 

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