Der als sittich bezeichnete Papagei wird in der dritten Strophe des um 1200 entstandenen Lied VI a Heinrichs von Morungen (MF 127,1) genannt. In dem Lied, das mit West ich, ob ez verswîget möhte sîn einsetzt, spricht ein lyrisches Ich von seiner heimlichen Liebe zu einer Dame und erklärt, dass es die Geliebte den Rezipienten vorstellen würde, wenn es denn nur sicher sein könnte, dass alles weiterhin im Verborgenen bliebe. Daraufhin wird deutlich, dass es sich um den Casus der hohen Minne handelt, denn das lyrische Ich bedauert, dass die Minnedame – während der langen Zeit, in der es sich um sie bemüht habe – nicht den ʻLernerfolgʼ gezeigt habe, über die Liebe sprechen zu können. Seiner Ansicht nach hätten ein Papagei oder ein Star diese Sprachleistung innerhalb desselben Zeitraums erbracht (Str. 3, V. 1f.: Waer ein sitich alder ein star, die mehten sît / gelernet hân, daz si spraechen minnen).
Auch im Angerlied Kristans von Hamle wird der Papagei erwähnt. Direkt in den ersten beiden Versen heißt es Ich wolde, daz der anger sprechen solde / als der sitich in dem glas (Angerlied, V. 1f.) Das lyrische Ich wünscht sich, die Wiese, über die kürzlich seine Minnedame geschritten sei, solle sprechen als der sitich in dem glas (Str. 1, V. 2) ‒ also ʻwie der Papagei im Spiegel’. Der von Heyne geäußerte Vorschlag, das Wort glas (V. 2) mit ʻPapageienbehälterʼ zu übersetzen (Heyne, 173), scheint verfehlt, da diese Übersetzung die antiken und mittelalterlichen naturkundlichen Vorstellungen vom Papagei und dessen Zuneigung zu seinem eigenen Spiegelbild nicht berücksichtigt (→ C. II.2). Offenbar stellen die ersten beiden Verse im Angerlied eine Anspielung auf eine besondere Methode des Sprachlerntrainings dar; eine Methode, bei der man das Tier angeblich vor einen Spiegel setzte und ein Mensch sich hinter dem Spiegel verbarg, um dem Papagei etwas vorzusprechen. Der Papagei glaube sich in dieser Situation mit einem sprechenden Artgenossen konfrontiert, versuche diesen nachzuahmen und lerne auf diese Weise schneller sprechen.
In dem Marienlob Die Goldene Schmiede Konrads von Würzburg wird der Papagei als ein Vogel dargestellt, dessen Gefieder weder mit Regen noch mit Tau in Berührung kommt (Die Goldene Schmiede, V. 1850-1853). Diese Vorstellung erlaubt einen Vergleich des Tiers mit der Heiligen Jungfrau, denn ebenso wie der Papagei frei von Feuchtigkeit bleibt, bleibt Maria unbefleckt und frei von jeder Sünde.
Ausg.: Heinrich von Morungen: Lieder, ed. H. Tervooren, 2003; Kristan von Hamle: Angerlied, in: KLD I, Nr. 30; Konrad von Würzburg, Die goldene Schmiede, ed. E. Schröder, 1969.
Lit.: M. Heyne: Das deutsche Wohnungswesen von den ältesten geschichtlichen Zeiten bis zum 16. Jahrhundert (= Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer von den ältesten geschichtlichen Zeiten bis zum 16. Jahrhundert, Bd. 1), 1899; E.-M. Hochkirchen: Präsenz des Singvogels im Minnesang und in der Trouvèrepoesie, Heidelberg 2015, 78-82; S. Mühlenfeld: Konzepte der ʻexotischenʼ Tierwelt im Mittelalter, Diss. Mainz 2017.
Stephanie Mühlenfeld