Ameise

Ameise – E.2 – II.2 Tierkunde, Enzyklopädik

John Trevisa (†1402), in seiner Übersetzung von Bartholomäus Anglicus’ De proprietatibus rerum, widmet im 18. Buch ein Kapitel der Ameise (›De formica‹). Trevisa stützt sich auf Isidor, Ovid, Solinus, Plinius, Aristoteles und die Bibel und erklärt zuerst die Etymologie des Namens ›formica‹ (Isidor: vom Tragen der Krumen und Getreidekörner), ihre Vorratshaltung (inklusive dem Trocknen der Körner, um ein Keimen zu verhindern) und ihrer Vorliebe für Weizen (›whete‹) und Vermeidung von Gerste (›bareliche‹). Er erwähnt, dass in Äthiopien hundsgroße Ameisen leben, die Gold graben und jeden verfolgen, der es stiehlt. Nach Solinus ist die Ameise ein kleines Tier, das jedoch fleißiger ist als manch großes Tier. Ameisen leben gemeinschaftlich organisiert, legen Vorräte an, bauen Hügel und legen ›Straßen‹ an. Bei Angriffen wehren sie sich durch verspritzen von giftigem Wasser, das auf der Haut brennt – weshalb man auch sage, die Ameise ›pisse‹. Plinius berichte, dass die Ameisen in einer Gemeinschaft organisiert arbeiten, schwere Lasten tragen – manchmal größer als sie selbst – und dass sie die gesammelten Körner schälen, damit diese nicht zu sprießen beginnen bzw. große Körner zerlegen, um sie ins Innere des Baus zu bringen. Ameisen arbeiten auch im Licht des Vollmonds und informieren sich gegenseitig über Nahrungsquellen. Die Ameisen sind in der Mitte ihres Leibes ›eingeschnürt‹ und nach einer gewissen Zeit wachsen ihnen Flügel und sie wandeln sich zu ›fleynge wormes‹. Indische Ameisen sind sehr groß und besitzen Hörner. Sie sammeln Gold und Edelsteine und verfolgen jeden, der es ihnen stiehlt, auch wenn er auf einem schnellen Kamel reitet. Aristoteles schließlich wird zitiert als Gewährsmann für den stark entwickelten Geruchsinn der Ameise, so dass sie alle unangenehm riechenden Dinge vermeiden und ihr Nest verlassen, wenn man sie mit Bimsstein, wildem Oreganum oder mit Hirschhorn ausräuchert. Ameisen leben in einer Gemeinschaft, haben aber keinen König und legen Vorräte an. Hier wird Salomon (Prv 6,6) zitiert, der auch auf diese beiden Eigenschaften Bezug nimmt. Aristoteles erwähnt ebenfalls die Arbeit bei Vollmond. Im letzten Paragraphen werden die Ameisen mit Blick auf ihren Einfluss auf Pflanzen und Natur betrachtet [noch zu prüfen: Quelle?]. So sollen sie durch ihre Nester die Wurzeln von Bäumen schädigen und verunreinigen die Hand, die sie anfasst. Ebenso klettern sie auf die Bäume und schädigen dort Blüten und Knospen und knabbern Früchte an. → Bären, wenn diese sich krank fühlen, essen Ameisen und heilen sich so.

Thomas Honegger

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Ameise – E.2 – III.1 Fabel

In der äsopischen Fabel erscheint die Ameise als Fabelprotagonist in The Ant and the Grasshopper (Nr. 373 in der Zählung von B.E. PERRY), wo sie im Gegensatz zur Zikade als vorausschauende Person Vorräte für den Winter anlegt (cf. Ameise im Buch Hiob). Die Fabel wurde durch Caxton (1484) ins Englische übersetzt. In Robert Henrysons Moral Fables wird die Ameise jedoch nicht genannt.

Thomas Honegger

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Ameise – E.2 – IV.1 Narrative Texte

Die Ameise wird mindestens zweimal in mittelenglischen Texten genannt (South English Legendary und Metrical Chronicle of Robert of Gloucester), wobei in beiden Fällen die Ameise nur als Vergleichsvorlage verwendet werden. Im ersteren Fall wird das Gewusel der Parasiten (→ Würmer), die sich aufgrund seiner asketischen Lebensführung in Thomas’ Fleisch eingenistet haben, mit der dicht gedrängten Geschäftigkeit der Ameise verglichen, im Chronicle-Text wird England von skandinavischen Invasoren überrannt, die das Land so dicht überziehen wie Ameisen auf einem Ameisenhaufen. Es wäre abzuklären, ob die Vorstellung des Sich-dicht-Drängens noch direkt aus der Naturbeobachtung kommt oder ob es sich bereits um einen literarischen Topos handelt.

In Lydgates Troy Book wird im 1. Buch (Zeilen 1-120) die Entstehung der Mymidonen aus Ameisen (nach Ovid und Guido de Columnis) erzählt. Peleus, der König von Thessalien, geht klagend alleine in den Wald, da all seine Untertanen durch Sturm, Schwert oder Seuche umgekommen sind. Er sieht in einem Loch inmitten der Baumwurzeln Ameisen herumkrabbeln und bittet die Götter, diese in Menschen zu verwandeln – was Jupiter auch macht und so die Rasse der Myrmidonen erschafft.

Ameisen, die die Größe von → Windhunden haben, werden in Kyng Alisaunder (Zeile 6556) als Teil der Wunder des Ostens (hier Ägyptens) erwähnt.

Thomas Honegger

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Ameise – E.2 – IV.3 Diskursive Texte

Liturgische und theologische Texte: Die Ameise kommt in Sprüche (Prv 6,6 und 30,25) als Beispiel der geschäftigen und vorsorgenden Fleißigkeit vor und kommt somit nicht nur in allen Übersetzungen ins Englische (e.g. Wyclif 1384) vor, sondern wird auch in der erbaulichen und Weisheits-Literatur als Vorbild genannt (e.g. Lydgates The Pilgrimage of the Life of Man, 1426 [eine Übersetzung von Guillaume de Deguilevilles Pèlerinage de vie humaine, 1355] oder der Secreta Secretorum). In Dan Michels Ayenbit of Inwit (1340) argumentiert der Erzähler, dass der Tugendhafte mit Hilfe Gottes nie unter seiner Last ermüdet und je länger er lebt desto größer wird seine Kraft – wie bei den kleinen Ameisen.

Thomas Honegger

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Ameise – E.4 – II.1 Physiologus, Bestiarien

Die Deutung der drei Proprietäten der Ameise durch die Millstätter Reimfassung sowie die Wiener Prosa (Kornsammlung, aber keine Kornabgabe [= weise Jungfrauen], Spaltung des Korns [= die beiden Schriftsinne], Verschmähung der Gerste [= Warnung vor Häresie]) entspricht ganz der lateinischen Tradition (→ C.II.1). Der Physiologus Theobaldi deutsch deutet – entsprechend seiner lateinischen Vorlage – die Ameise als exempel der arbeit (293) mit spirituellen (den verdammten Juden nicht zugänglichen) Dimensionen: Der Christenmensch solle – wie die Ameise für den Winter – Vorsorge treffen für das Jüngste Gericht, er solle sich an das Neue Testament halten und das Alte – wie die Ameise die Gerste – verschmähen, und er solle – entsprechend der kornspaltenden Ameise – die zwei Auslegungsmöglichkeiten der Heiligen Schrift beachten. Die übrigen deutschsprachigen Physiologus-Versionen enthalten kein Kapitel über die Ameise.

Ausg.: Der altdeutsche Physiologus, ed. F. MAURER, 1966; Physiologus Theobaldi deutsch, ed. D. SCHMIDTKE 1967, 270-30.

Sabine Obermaier

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Ameise – E.4 – II.2 Tierkunde, Enzyklopädik

Wie schon seine Vorlage (Thomas von Cantimpré in der Redaktion III) ordnet Konrad von Megenberg die Ameise bei den → wurmen ein (gemeint sind damit Lebewesen, die sich ohne ‚Unkeuschheit‹ vermehren). Der Vergleich mit den → Bienen fehlt schon in Thomas III, ansonsten werden sämtliche bei Thomas genannten Eigenschaften erwähnt: der ausgeprägte Geruchssinn (was empirisch nachweisbar ist, indem man Oreganum oder Schwefel auf den Ameisenhaufen legt, was die Ameisen vertreibt), die Zunahme an Stärke mit dem Alter, ihre Aktivität bei Vollmond, ihr Beenden der Arbeit bei Neumond, überhaupt ihre Emsigkeit sowie die Tatsache, dass sie – dem Menschen gleich – ihre Toten begraben, und ihre Klugheit im Umgang mit dem gesammelten Korn. Eine Auslegung des Tiers unterbleibt.

[…]

Ausg.: Konrad von Megenberg: Das ›Buch der Natur‹, ed. R. LUFF/G. STEER, 2003; Thomas von Cantrimpré: Liber de naturis rerum. Redaktion III (Thomas III), ed. Projektgruppe B2 des SFB 226 Würzburg-Eichstätt unter Leitung von B. K. Vollmann, [1992, masch.].

Sabine Obermaier

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Ameise – E.4 – III.1 Fabel

Die aus dem griechisch-äsopischen Traditionsstrang stammende Fabel von der Ameise und der → Grille (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 35) ist auch in die meisten der mittelhochdeutschen Fabelsammlungen mit der üblichen Deutung übernommen worden. Wohl unter dem Einfluss der biblisch-christlichen Tradition (Prv 6,6-8; 30,25) wird der Ameise ein Fleiß zugeschrieben, der es dem Tier ermöglicht, planvoll und weit vorausschauend zu handeln und sich beizeiten im Sommer (der Jugend) auf die Notlage des Winters /des Alters) vorzubereiten. Die Grille hingegen repräsentiert den faulen, arbeitsscheuen Müßiggänger, der nur auf sein Vergnügen bedacht ist und in Notzeiten auf die Hilfe anderer angewiesen ist, die ihm jedoch mit Recht versagt bleibt. Dabei geht es keineswegs immer nur um materielle Vorsorge. Ulrich Boner empfiehlt zugleich auch das Bemühen um gesellschaftliches Ansehen (êre) und um allgemein anerkannte charakterliche Qualitäten (tugent). Auch im Wolfenbütteler und Magdeburger Äsop wird in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit des Ehrerwerbs (neben der Sicherung materieller Güter) hingewiesen; der im Bildteil dieser beiden Fabelbearbeitungen explizit artikulierte Gedanke, dass der Gesang der Grille auch als Dienst an der Gesellschaft verstanden werden könnte, wird im Auslegungsteil nicht wieder aufgenommen. Ebenso wenig wird das Verhalten der Ameise (etwa als hartherziger Egoismus) kritisiert, obwohl diese Deutung doch nahe liegen könnte, wenn etwa im Nürnberger Prosa-Äsop die Fabel überschrieben ist mit: Von der amaizz die mit der grill nicht tailen wolt.

Die um geistliche Auslegungen ergänzten Sammlungen (Magedeburger Prosa-Äsop, Nürnberger Prosa-Äsop) übernehmen die kontrastive Gegenüberstellung der Fabelakteure und deuten die Ameise als den um sein Seelenheil besorgten Menschen, der sich mit guten Werken rechtzeitig erfolgreich um das ewige Leben bemüht, während die Grille für die der Diesseitigkeit der Welt verhafteten Menschen steht, die der ewigen Verdammnis ausgeliefert sind.

Im Streitgespräch zwischen → Fliege und Ameise (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 150) repräsentiert die Fliege die maßloseund unverschämte Selbstüberschätzung und Überheblichkeit und wird von der Ameise, die ihren eigenen Stellenwert richtig erkennt und für ihre (allgemein sozialverträglichere) Lebensweise selbstbewusst eine höhere Anerkennung einfordert, mit überzeugenden Argumenten auf ihr falsches Selbstbild hingewiesen.

Erst im Anschluss an Steinhöwel finden sich deutsche Bearbeitungen der Fabel von der → Taube, die eine Ameise vor dem Ertrinken rettet und die anschließend von der Ameise vor einem Vogelsteller gewarnt wird (Dicke/Grubmüller, Nr. 37). Diese nicht mit spezifischen Charaktereigenschaften der Tiere verbundene Fabel ist als Ermahnung zur Dankbarkeit verstanden worden oder als Appell, Gutes mit Gutem zu vergelten.

In den Cyrillusfabeln zeigt die Ameise durchaus konträre Eigenschaften. Als intellektuell überlegen präsentiert die Ameise sich, wenn sie dem sich seiner Goldfarbe rühmenden Chamäleon rät, seine Augen zu schließen (DICKE/ GRUBMÜLLER, Nr. 33), oder wenn sie dem → Fuchs empfiehlt, sich mit seinem Loch zufrieden zu geben und nicht zu ebener Erde seine Wohnung bauen zu wollen (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 34). Die geflügelte Ameise, die sich wie → Nachtigall und → Biene am Leben in der freien Luft erfreut (DICKE/GRUBMÜLLER, Nr. 36), will beim Wintereinbruch wieder in den alten Bau, wird aber abgewiesen, da sie nichts zum Leben der anderen Ameisen beigetragen hat. Die Komplexität der Fabel ermöglicht späteren Bearbeitern durchaus Deutungsnuancierungen. Hans Wilhelm Kirchhof etwa versteht sie als Warnung vor Fürwitz, Wankelmut und ständig neuen Diensten, während Eucharius Eyring daraus u. a. die Lebensweisheit zieht, dass es keinen Vorteil ohne gleichzeitigen Nachteil gebe.

Ausg.: Ulrich Boner: Der Edelstein, ed. F. Pfeiffer, 1844, Nr. 41f.; Wolfenbüttler Äsop. Die Fabeln Gerhards von Minden in mittelniederdeutscher Sprache, ed. A. LEITZMANN, 1898, Nr. 74, 122; Gerhard von Minden: Magdeburger Äsop, ed. W. SEELMANN, 1878, Nr. 56, 62; Der Nürnberger Prosa-Äsop, ed. K. GRUBMÜLLER, 1994, Nr. 33; Heinrich Steinhöwel: Äsop, ed. H. Oesterley, 1873, Nr. 37, 77, 108; Der Magdeburger Prosa-Äsop, in: B. DERENDORF: Der Magdeburger Prosa-Äsop, 1996, S. 246-480. Die deutsche Übersetzung der Cyrillusfabeln durch Ulrich von Pottenstein ist leider noch nicht ediert; Editionsproben in: U. BODEMANN: Die Cyrillusfabeln und ihre deutsche Übersetzung durch Ulrich von Pottenstein, 1988, S. 148-179, hier die Fabel von der fliegenden Ameise: S. 159-163. Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth, ed. H. OESTERLEY, 1869, Reprint 1980, Nr. 6,275f., 7,150; 7,65a; Eucharius Eyering, Proverbiorum Copia (Eisleben 1601-1604), Reprint 2003.

Lit.: G. DICKE/K. GRUBMÜLLER: Katalog der Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 1987.

Dietmar Peil

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